Dr. Lina Seitzl in Wochenblatt-Interview
»Wohlstand ist keine Selbstverständlichkeit mehr«
Konstanz/ Singen. Dr. Lina Seitzl (33) ist die erste SPD-Bundestagsabgeordnete im Landkreis seit langer Zeit. Sie hat Politik und Verwaltungswissenschaften studiert und hat ihren Doktortitel mit »magna cum laude« verliehen bekommen. Sie will, schreibt sie auf ihrer Homepage, daran mitwirken, dass wir die Welt gerechter gestalten. Im Wochenblattinterview sagt sie, wie sie das Thema Gerechtigkeit und was es gerade braucht, derzeit sieht.
Wochenblatt: Die Zeiten werden unsicherer, oder: Wir merken, dass das Leben unsicherer ist, als sich das weite Teile der Gesellschaft vorgegaukelt hatten. Wen wird es aus Ihrer Sicht besonders hart treffen in den nächsten Monaten?
Lina Seitzl: Die aktuellen Preissteigerungen treffen vor allem diejenigen am härtesten, die auch bisher nur ein kleines bis mittleres Einkommen haben. Denn die Preise steigen insbesondere bei Lebensmitteln und der Energie, Dingen also, bei denen nur begrenzt gespart werden kann. Deshalb unterstützen wir diese Einkommensgruppen auch besonders durch unterschiedliche Einmalzahlungen, wie zum Beispiel den Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger oder die Energiepreispauschale, die versteuert werden muss und deshalb denjenigen mit niedrigem Einkommen besonders zu Gute kommt.
Wochenblatt: Wie können sich diese Menschen helfen?
Lina Seitzl: Ich halte nicht viel davon, wenn die Politik den Menschen Spartipps gibt. Die allermeisten wissen genau, wieviel sie im Monat zur Verfügung haben und wofür sie es ausgeben können, gerade wenn das Geld knapp ist. Die Politik sollte sich darauf konzentrieren die Voraussetzungen zu schaffen, dass alle über die Runden kommen können und wir als Gesellschaft nicht geschwächt aus der derzeitigen Krise herauskommen.
Wochenblatt: Was ist für Sie Menschenwürde in Verbindung mit Arbeit und Lohn und wo muss aus Ihrer Sicht, wenn es um die Würde der Menschen geht, nachgebessert werden im Themenbereich Arbeit, Lohn und staatliche finanzielle Leistungen?
Bürgergeld als Zeichen des Respekts
Lina Seitzl: Ein fairer Lohn und ein gerechter Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag aller Arbeit ist Teil der Menschenwürde. Die im Oktober umgesetzte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro stellt sicher, dass in Deutschland niemand ausgebeutet wird. Auch die Einführung des Bürgergeldes ist ein wichtiger Schritt für einen respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft, den die unions- und grüngeführten Landesregierungen im Bundesrat leider bislang verhindern (Anmerkung der Redaktion: Am Dienstag wurde ein Kompromiss gefunden.)
Wochenblatt: Eine Ja/Nein Frage sei mir erlaubt: Haben wir zu viele Regeln in Deutschland, die von EU, Bund und Ländern kommen?
Lina Seitzl: Jain. Es gibt Regelungen, die uns noch dringend fehlen und andere Stellen, an denen wir dringend entbürokratisieren sollten und werden.
Wochenblatt: Wenn nein, welche Regeln fehlen noch?
Lina Seitzl: Natürlich gibt es trotz vieler bestehender Regelungen auch immer noch Probleme, die wir nur durch neue Regelungen verbessern können. Ich blicke da insbesondere auf den Bereich der Transparenz. Die Ampel will beispielsweise durch eine geplante Regelung zur Offenlegung von Einflüssen Dritter bei der Vorbereitung und Erstellung von Gesetzen durch die Bundesregierung und den Bundestag einführen. Das halte ich für sinnvoll, weil damit klar wird, welche Interessen hinter Gesetzesinitiativen stehen.
Ehrenamt muss entlastet werden
Wochenblatt: Wenn ja, welche Regeln müssen weg oder zusammengefasst werden?
Lina Seitzl: Insgesamt glaube ich aber, dass wir in Deutschland in vielen Dingen sehr vorsichtig sind und uns deshalb doppelt und dreifach absichern an Stellen, wo das schnelle Entscheidungen verhindert. Deshalb müssen wir an einigen Stellen Bürokratie abbauen. Ein Beispiel dafür sind bürokratische Entlastungen für Familien von schwerstbehinderten Kindern oder die spürbare Verringerung der Steuerbürokratie, beispielsweise durch höhere Schwellenwerte und volldigitalisierte Verfahren. Um bürgerschaftliches Engagement zu fördern und gerade auch junge Menschen für das Ehrenamt zu begeistern, werden wir unter
anderem auch das Ehrenamt von Bürokratie und möglichen Haftungsrisiken entlasten. Auch das Bürgergeld leistet einen Beitrag zur Entbürokratisierung.
Wochenblatt: Geflüchtete aus der Ukraine bekommen ohne weitere Prüfung der Vermögens- und Einkommenslage Sozialleistungen. Ist das a.) gerecht gegenüber den anderen Geflüchteten, b.) gegenüber der arbeitenden Bevölkerung und c.) gegenüber den vielen Unternehmerinnen und Unternehmern, die, so hören wir, dringend Arbeitskräfte brauchen und von vielen Sozialleistungsempfängern zu hören bekommen: das lohnt sich nicht?
Lina Seitzl: Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar sind mehr als 1 Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich zu Beginn des Krieges unter Einhaltung der EUMassenzustroms-Richtlinie darauf geeinigt, Geflüchteten aus der Ukraine grundsätzlich Schutz zu gewähren. Mit dieser Regelung fällt das Asylantragsverfahren im Vergleich zu Geflüchteten aus anderen Nicht-EU-Ländern weg. Deutschland hat seinen Arbeitsmarkt für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet. Das ist angesichts des Fachkräftemangels auch dringend notwendig.
Wochenblatt: Immer mehr Einzelhändler und kleine Familienbetriebe schaffen es nicht, die Kinder von einer Nachfolge zu begeistern. Der Grund, den wir am häufigsten hören: Fehlende Rentabilität, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein sei lukrativer. Was brauchen die kleinen Unternehmen der Region, was ist ihre Wahrnehmung?
Ampel will unkompliziert beim Datenschutz helfen
Lina Seitzl: Mein Eindruck ist, dass sich viele kleine und mittelständische Unternehmen in der Region vor allem Unterstützung bei den großen Herausforderungen, wie dem Fachkräftemangel und der Digitalisierung wünschen. Mit der Fachkräftestrategie der Bundesregierung wollen wir unsere Betriebe dabei unterstützen Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Außerdem wird die Ampelregierung kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung sowie der IT-Sicherheit, DSGVO-konformer Datenverarbeitung und dem Einsatz digitaler Technologien über die Branchen hinweg, unkompliziert fördern und unterstützen.
Wochenblatt: Was stimmt im Gesundheitssystem nicht? Was muss als erstes geändert werden?
Lina Seitzl: Die Pandemie hat die Herausforderungen im Gesundheitssystem deutlich hervorgehoben. Wir müssen für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung und eine menschliche und qualitativ hochwertige Medizin und Pflege sorgen. Dafür braucht es das Personal. Um mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, müssen nicht nur die Entlohnung sondern auch die Arbeitsbedingungen attraktiv sein.
Pflegeausbildung kostenlos?
Ich finde auch wichtig, dass die Pflegeausbildung zukünftig überall kostenfrei und vergütet wird, damit mehr junge Menschen diesen Beruf lernen. Zum anderen haben wir erhebliche Finanzierungsprobleme im Gesundheitssystem. Gleichzeitig muss die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangetrieben werden. Das ermöglicht Bürokratieabbau und sorgt dafür, dass die Arbeit am Menschen im Mittelpunkt steht und nicht die Dokumentation am Schreibtisch. Und schlussendlich brauchen wir eine langfristig stabile Finanzierung des Gesundheitswesens und der Pflege.
Wohlstand nicht selbstverständlich
Wochenblatt: Was ändert sich im schlimmsten Falle an der Lebenswirklichkeit in Deutschland bis Ende 2023?
Lina Seitzl: Gerade meine Generation, die es immer gewohnt war in Wohlstand und Frieden aufzuwachsen, stellt gerade fest,
dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Auch 2023 werden wir für diese Dinge einstehen müssen.
Wochenblatt: Was im besten Fall?
Lina Seitzl: Im besten Falle werden unsere Bemühungen, die sozialen und finanziellen Folgen der heutigen Herausforderungen durch zielgerichtete Maßnahmen abzufedern, greifen. Ich bin guter Hoffnung, dass wir mit unseren Entlastungspaketen genau dort unterstützen und entlasten können, wo es derzeit am dringendsten gebraucht wird. Damit können wir Folgeschäden für die kommenden Jahre und Jahrzehnte vorbeugen.
Wochenblatt: Wie, falls überhaupt, retten wir die Demokratie?
Lina Seitzl: Im Austausch mit unseren Bürgerinnen und Bürgern und auch mit der jungen Generation stelle ich immer wieder fest, wie politisch und demokratisch unsere Gesellschaft ist. Ich bin zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft es aushält, demokratisch über Themen zu streiten und am Ende doch wieder zusammenzukommen. Mit Blick auf andere, auch europäische, Länder, können wir feststellen, dass unsere Demokratie nach wie vor sehr stabil ist.
Wochenblatt: Brauchen wir ein starkes Europa? Was fehlt dafür?
Lina Seitzl: Gerade der Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns deutlich vor Augen geführt wie wichtig die Europäische Union als Gemeinschaft des Wohlstandes und des Friedens für uns ist. Nur in einem starken Europa können wir unsere Werte weiterleben und verteidigen. Ich glaube, dass Europa in den letzten Monaten stärker zusammengerückt ist. Diese Chance müssen wir ergreifen und weiter daran arbeiten.
Ideologiefrei?
Wochenblatt: Und drei ganz persönliche Fragen: Was wünschen Sie sich gerade am sehnlichsten von ihren politischen KollegInnen aller Parteien?
Lina Seitzl: Ich würde mir wünschen, dass die Abgeordneten aller Parteien gerade in diesen schwierigen Zeiten von ideologischen Kämpfen absehen, damit wir die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam ohne Spielereien nach vorne bringen können.
Wochenblatt: Von den Medien?
Lina Seitzl: Manchmal würde ich mehr Differenziertheit von den Medien wünschen. Auch wenn reißerische Schlagzeilen besser ankommen, ist es doch wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger immer auch den Hintergrund und das Pro und Contra einer Entscheidung kennen.
Wochenblatt: Von sich selbst?
Lina Seitzl: Ich erwarte von mir, dass ich mich nicht von der politischen Blase in Berlin einwickeln lasse, sondern immer hier in der Region verwurzelt bleibe und die Bedürfnisse der Menschen im Blick behalte.
Wochenblatt: Herzlichen Dank für Ihre Mühen!
LeserInnen können Fragen stellen
PS: Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie Fragen an die Politik derzeit? Die können Sie uns gerne schreiben. Wir lesen aufmerksam, sammeln, bündeln und stellen für Sie Fragen. (Schicken Sie uns ihre Fragen gerne an hennig@wochenblatt.net)
Autor:Anatol Hennig aus Singen |
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