14. Erzählzeit ohne Grenzen
Die Stimmen und Farben der Literatur
Singen/Schaffhausen. 62 Lesungen in 45 Gemeinden von 34 AutorInnen an zehn Tagen: Das sind die „harten Fakten“ der 14. Erzählzeit ohne Grenzen, des Literaturfestivals, das von Freitag, 24. März, bis Sonntag, 2. April, gemeinschaftlich in den Regionen Schaffhausen und Singen-Hegau ausgetragen wird.
Hinter diesen Daten versteckt sich jedoch, ähnlich dem Einband eines Buches, deutlich mehr. Einen Einblick in das Programm der Erzählzeit gab ein Kern des Organisationsteams aus Singen und Schaffhausen, bestehend aus Friederike Gerland von den Städtischen Bibliotheken Singen sowie für Schaffhausen Oliver Thiele, Leiter der dortigen Stadtbibliothek, und Alexandra Lampater, nun am Montag. Dabei freute sich Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler ganz besonders über das Literaturfestival, das, wie auch die Museumsnacht, in Kooperation zwischen Singen und Schaffhausen über die deutsch-schweizerische Grenze hinweg stattfindet. „Dieses Gemeinschaftliche macht die Erzählzeit aus“, betonte der OB, ebenso wie die Vielfalt der Lesungen, als „breites und buntes Feld von dem, was die Literatur anbietet.“ Auch dass die Autorenlesungen so ihren Weg in kleinere Gemeinden fänden, sei eine Besonderheit.
Dadurch kämen die Autoren auch an Orte, an die sie sonst nicht kommen würden, griff auch Oliver Thiele im Anschluss diesen Punkt auf. Die vielen Termine beidseits der Grenze in dem zehntägigen Programm unterzubringen, bezeichnete der Mitorganisator als „interessantes Puzzlespiel“. Es gelte nicht nur alle Lesungen unterzubringen, sondern dabei auch Abwechslung zu bieten.
Da eine vollständige Programmvorstellung mit 34 AutorInnen und Büchern sehr umfangreich ausgefallen wäre, beschränkte man sich bei dem Medientermin am Montag auf elf stellvertretende Punkte daraus: die Eröffnung am 24. März, das Sonntagsfrühstück am 2. April und jeweils drei Empfehlungen von Oliver Thiele, Alexandra Lampater und Friederike Gerland.
Start in Schaffhausen
Die Eröffnung, die im Wechsel in Singen und Schaffhausen stattfindet, findet um 19 Uhr im Kammgarn in Schaffhausen statt. Diese sei, so Oliver Thiele in seinem Überblick weiter, zu seiner Freude „weiblich geprägt“, mit der Moderatorin Monika Schärer, einer musikalischen Abrundung durch Elina Duni und Autorin Judith Hermann. Dreh- und Angelpunkt ist dabei deren Buch „Wir hätten uns alles gesagt“, das nur wenige Tage vorher erscheint und in dem sie ihr Leben und Schreiben beleuchtet und – auch generell – miteinander in Verbindung bringt.
Geschichten von damals
Thieles erster persönlicher Tipp ist die Lesung von Irina Kilimnik aus „Sommer in Odessa“: Erzählt wird die Geschichte einer Familie in der ukrainischen Hafenstadt im Jahr 2014. Das geschehe trotz der schweren Materie auf eine „leichtfüßige“ Art, aber gerade durch den Blick von heute werde der Inhalt besonders eindrücklich. Als Erstlingswerk der selbst in Odessa geborenen Autorin sei dies eines der Beispiele dafür, dass die Erzählzeit „sehr stark darin ist, neuen Stimmen eine Plattform zu geben“.
Auch „Die Optimistinnen“ von Gün Tank ist eine dieser neuen Stimmen und richtet das Scheinwerferlicht auf eine selten gehörte Personengruppe: Die Mehrzahl an Frauen, die in den 1970ern als Gastarbeiter nach Deutschland migrierten, verschwinden oftmals im Schatten der männlichen Arbeiter. Doch die junge Türkin Nour sorgt in eben dieser Rolle in der Oberpfalz für Turbulenzen und engagiert sich dort für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Wenn auch der Inhalt zunächst wenig optimistisch klinge, werde der Roman mit seiner humorvollen Note dem Titel gerecht, so Oliver Thiele.
Zuletzt nannte er noch Sasha Filipenko, einen weißrussischen Schriftsteller, mit dem Werk „Kremulator“. Als Kritiker des Diktators Lukaschenko lebt der Autor momentan im Exil und gehört dennoch zu den „großen Namen der osteuropäischen Literatur“. Filipenko liest und spricht zwar auf Russisch, es wird jedoch durch Maria Chevrekouko eine Übersetzung geben, während Schauspieler Pascal Holzer deutsche Textpassagen liest. Der Fokus der Geschichte liegt auf dem Direktor des Moskauer Krematoriums, genauer auf dessen Verhaftung und Verhör in der Stalin-Zeit. Die rabenschwarze Geschichte beruht dabei auf echten Tatsachen.
Am Rand der Realität
Die erste Empfehlung von Alexandra Lampater trägt den Titel „Diese ganzen belanglosen Wunder“ von Leona Stahlmann, die fiktive Geschichte des zwölf Jahre alten Zeno. Dessen Mutter kann eines Tages die dystopische und vom Klimawandel gezeichnete Welt nicht mehr ertragen und verschwindet. Zeno jedoch bleibt und zeichnet mit seiner Willensstärke die Grundlage für diesen „Hoffnungsroman“, wie ihn die Autorin selbst nennt.
Auch in „Prana Extrem“ von Joshua Groß hält der Klimawandel Einzug. Während hier im Vordergrund ein Sommer in Tirol mit allen zugehörigen „Banalitäten“ steht, finde das eigentliche Drama im Hintergrund statt. Es um die Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein – zwischen Handeln und Verhalten.
Zuletzt führte Lampater noch „Mr. Goebbels Jazzband“ von Demian Lienhard auf. Dieses Buch ist angelehnt an wahre Begebenheiten und „schrammt dabei an der Realität vorbei“. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Autor, der ein Buch über eine Jazzband schreiben soll. Doch handelt es sich bei der Band um ein Medium, das die Propaganda des NS-Regimes verbreiten sollte und zu ebendiesen Zwecken auch aus geächteten Minderheiten zusammengesetzt war.
Komplexe Systeme
Von Friederike Gerland, Leiterin der Städtischen Bibliotheken Singen, gab es ebenfalls drei persönliche Tipps. Zum einen Martin Kordics„Jahre mit Martha“, das dem 15-jährigen „Jimmy“ folgt, dessen Name eigentlich Željko lautet. Dieser ist sehr wissbegierig, tut sein Möglichstes, um in der fremden Kultur Deutschlands anzukommen und verliebt sich letztlich in die deutlich ältere Martha. Die Beziehung der beiden wird dabei nicht zu explizit erläutert und beschreibt die Suche nach „Halt und Orientierung“, berichtete Gerland.
Bei „Hohe Berge“ von der Autorin Silke Stamm sprach Gerland von einer „eigenen Sprache“. Wenn man sich darauf einlasse, mache gerade das die Intensität dieser Erzählung über eine Skitour aus. Denn die gesamte Handlung steuere auf einen Höhepunkt zu, der allerdings erst kurz vor Schluss aufgelöst wird.
Außerdem wies Friederike Gerland noch auf die Lesung von Daniela Dröscher aus „Lügen über meine Mutter“ hin. Der Vater der Erzählfigur macht seine Frau und insbesondere deren Übergewicht für sein Unglück und den ausbleibenden Erfolg in seiner Karriere verantwortlich. Die Geschichte „beschreibt die Komplexität im System Familie“, während die Tochter mal aus ihrer kindlichen, mal aus erwachsener Sicht erzählt, wobei stets spannend bleibe, wohin sich diese entwickelt.
Sonntagsfrühstück in der Stadthalle
Ein weiteres Highlight im Programm der Erzählzeit ist das Sonntagsfrühstück in der Singener Stadthalle am 2. April ab 10 Uhr, in diesem Jahr mit Frank Goosen und „Spiel ab!“. Der Protagonist ist ein Kneipeninhaber, der die Beziehung zu seinem Sohn verbessern möchte, indem er spontan die Trainerrolle in dessen Fußballmannschaft übernimmt – obwohl er davon gar keine Ahnung hat. Unterstützt wird die Lesung in der Stadthalle von Barbara Gräsle auf der Gitarre.
Wer das kleine Büchlein mit der Programmübersicht in Händen hält, dem wird zudem eines auffallen: Darauf ist von 35 AutorInnen und 64 Lesungen die Rede. Denn leider, so teilte Thiele bei dem Gespräch am Montag mit, musste Kim de l'Horizon, ausgezeichnet mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis 2022, aus gesundheitlichen Gründen vorerst alle Termine absagen. Das sei besonders schmerzlich, da die Anfrage für die Erzählzeit laut Thiele schon erfolgt war, bevor die Auszeichnung auf der Buchmesse stattfand: „Aber wir hoffen, das im Laufe des Jahres nachzuholen.“
Weitere Informationen zu den Lesungen und zur Erzählzeit sind zu finden auf der Internetseite des Literaturfestivals unter: www.erzaehlzeit.com
Autor:Anja Kurz aus Engen |
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