1960 Jahre nach Christus
Mein Jahrzehnt: Winfried Pfeffer

1960: Ruhe, erdrückende Ruhe lag überm ganzen Land, Bundeskanzler Adenauer bereitete sich auf seinen 85. Geburtstag vor, die Hausfrauen bemühten sich um einen staubfreien Glanz auf den Gummibaumblättern und darum, mit 670 Mark Durchschnittseinkommen für einen 4-Personen-Haushalt auszukommen, was bei einem Butterpreis von 10 Mark pro Kilo nicht leicht war. Im Boli, Radolfzell 3.Kino läuft wieder mal "Tarzan - Bezwinger der Wüste". Besonders Kühne überlisten die bärbeißige Kartenabreißerin, indem sie samstagmittags zum Kinderpreis von 80 Pfennig in "Fuzzy" gehen und abends in einen verruchten Film á la "Sie tanzte nur einen Sommer".

Info:
Das ging einem immer so flott von den Lippen, wenn man den armen Nachgeborenen von seiner tollen Jugend erzählt hat, getreu dem alten Albumspruch: Mach es wie die Sonnenuhr, (er)zähle die heiteren Stunden nur. Dann kam der Anruf des Wochenblatts: "Pfeffer, schreiben Sie doch mal was über die 60er Jahre." Ja, und dann war Nachdenken angesagt. Und das einstmals so Tolle war - zu Papier gebracht - gar nicht mehr so wahnsinnig toll. Fast 40 Jahre später fällt einem nämlich auf, dass man gar nicht so ein Revolutionär war, dafür aber in manchen Punkten genauso ein Feigling, wie die von uns so gern gescholtene Eltern- und Nachkriegsgeneration. Am deutlichsten wird mir dies, wenn ich am Lusienplatz die zwei grimmigen Krieger aus Muschelkalk sehe, die immer noch wild entschlossen nach Westen marschieren. Sinnbild dafür, dass es bisher noch keine Generation gab, die einmal mutig für einen richtigen Neuanfang sorgte. Ja, wir die Sechziger, bestimmt nicht schlechter als die Fünfziger Generation, aber auch nicht viel besser als die nachfolgende 70er Jugend. Wir sind halt alle brave, mehr oder minder angepasste Radolfzeller. Wie war es denn gleich?

1961: Plötzlich und ohne dass man uns vorher gewarnt hatte, war die Schule fertig, alles sprach vom "König Lehrling", wir bewarben uns deshalb selbstbewusst bei allen großen hiesigen Firmen, bei der Maggi gab es ein gutes Mittagessen mit einem Paket Beutelsuppen, beim Schiesser kleine Unterhosen als Einstecktücher. Die Mehrfachbewerbung brachte nichts, die Lehrfirmen sprachen sich untereinander ab, ich fand mich bei der Firma Allweiler wieder, gottlob waren die väterlichen Ohrfeigen des Lehrmeisters gerade abgeschafft worden. Mein ganzes Denken und Streben beherrschte auf einige Monate ein U-Eisen, was mühevoll und schikanenreich mittels Feile zu Staub verwandelt werden musste. Dass da an einem Sonntag in Berlin eine Mauer errichtet wurde, das hat man im säuberlich nach Geschlechtern abgetrennten Herrenbad gar nicht so richtig mitgekriegt. Wichtiger war, was da wohl im Frauenbad so ablaufen könnte.

1962: Kaum dass wir Lehrlinge sind, boomt die deutsche Wirtschaft. 140.000 Arbeitslosen stehen 156.000 neue Arbeitskräfte gegenüber, die alle aus den Mittelmeerländern angeworben werden. Der 100.000-ste wird eine NSU-Quickly und nach 2 Monaten bestimmt Heimweh kriegen und damit dann mit einem Kumpel zusammen am Radolfzeller Bahnhof von Napoli träumen, zumindest glaubte es damals Cornelia Froboess so. Im fernen Hamburg traten erstmals 4 Liverpooler Jungs auf, aber das haben wir gar nicht mitgekriegt. Wichtiger war damals, dass man im Gaismaier, Radolfzells großem Supermarkt, nochmals 2 große Flaschen Öl gehamstert hat, man weiß ja nie bei dieser Kuba-Krise.

1963: Das Kennedy-Jahr. Im Juni jubeln Tausende von Menschen J.F.Kennedy zu, 4.000 Berliner hören "Ich bin ein Berliner". Am 22. November fallen in Dallas die tödlichen Schüsse. Im Scheffelhof spielt an diesem Abend das Bodensee-Sinfonie-Orchester, in der Pause gibt es einen Aushang. "Weiter spielen oder nicht ?", das war die Frage. Man hat dann schließlich doch weiter musiziert und manch einer hat sich seiner Tränen nicht geschämt. Am Samstagabend organisieren Schüler des Gymnasiums einen Schweigemarsch auf dem Marktplatz. Aber auch sonst wird es kälter, der erste Schnee von Buß-und Bettag bleibt bis weit in den März liegen, der Untersee und später der ganze Bodensee friert zu, es wird der kälteste Winter seit -zig Jahren.

1964: Yeah, yeah, yeah. Das Beatles-Jahr. So langsam kriselt es in vielen Radolfzeller Familien, die immer ordentlich gehaltenen Kurzhaare, stets gescheitelt und mit "Brisk" gefettet, kommen aus der Mode. Frech stehen dem einen oder anderen von uns schon einmal ein paar Haarspitzen am Ohrrand auf. Das finden die Eltern aber gar nicht gut, auch nicht, dass jetzt die Jugend jeden Abend auf Mittelwelle "Salut Le Copain" hören muss, nur weil im schon damals alten Südwestfunk immer noch Freddy Quinn von Heimweh singt. Plötzlich trennt Musik mehr, als dass sie verbindet, und während unsere Seniorenchöre "Frohsinn" und "Harmonie" noch immer und noch weitere 20 Jahre vom deutschen Wald singen, sitzen wir gebannt im Scheffelhof und ziehen uns die "deutschen Beatles", die "Lords" rein. Überhaupt knackt es hörbar in den Pfeilern der bisherigen selbst ernannten Autoritäten. Im "Resi" läuft wochenlang "das Schweigen" von Ingmar Bergman bis auch der letzte Schweizer aus der Grenzregion den Film gesehen hat. Aber welch eine Änderung, 15 Jahre früher protestierte die katholische Jugend noch mannhaft gegen die 2 Sekunden lang nackte Sünderin Hildegard Knef. Sie protestierte auch damals gegen den einzigen, im hintersten Eck der Münster-Drogerie angebrachten Radolfzeller Präservativ-Automat. Jetzt aber kamen "Mothers little helper" auf, ein Königreich für eine Packung Eugonom H., die es legal bei Radolfzeller Ärzten aber erst gab, wenn frau mindestens 3-4 Kinder vorweisen konnte.

1965: Das Jahr hatte schon so gut angefangen. Endlich ausgelernt und unvorstellbare DM 3,80 Stundenlohn als Geselle. Nun ja, das Glas Bier in der "Germania" kostete dafür auch bloß 55 Pfennig, das reichte gerade noch für die Platte "Satisfaction" von den Stones, ein "Muss" in diesem Jahr. Da kann Kanzler Erhard lange vom Maßhalten erzählen, mich kann er da nicht gemeint haben. Eigentlich könnte es jetzt so weitergehen, plötzlich macht mir die Bundesrepublik Deutschland ein fast nicht ausschlagbares Angebot: 18 Monate bei freier Kost und Logis, Kleidung und leider etwas einseitiger Unterhaltung und dann sogar noch DM 50,-- Wehrsold. Wer konnte da Nein sagen?

1966: Kanzler Erhard wird demontiert, seither hat für mich das Wort Parteifreund einen besonderen Klang. Nach langen Wirren (wer soll mit wem) setzt sich eine große Koalition durch. Baden-Württemberg verliert den schönen Kurt Georg Kiesinger und gewinnt Hans Filbinger, den Mann mit großen Gedächtnislücken. Es fängt überall an zu rumoren, in Berlin nimmt ein Rudi Dutschke an der Demonstration gegen den Vietnam-Krieg teil, in Amerika singt Bob Dylan gegen den Krieg an. Der einzige Lichtblick.

1966: Die Engländerin Mary Quant erfindet den Minirock. Radolfzell machte in diesem Jahr nur einmal traurige Schlagzeilen: Im ruhigen Bleichenweg werden drei Menschen mit dem Hammer erschlagen und im Kleiderschrank versteckt.

1967: Irgendwo im bolivianischen Urlaub wird "Che" Guevara erschossen, lebt aber als Poster in Tausenden von Jugend- und Studentenzimmern weiter. 46% der Amerikaner sind nach Gallup gegen den Vietnam-Krieg, es ist aber hauptsächlich nur die Pop-Musik, die diesen Kampf führt. Das Musical "Hair" artikuliert diese Unzufriedenheit, Hunderte von Radolfzeller pilgern dafür nach Zürich. Wer bei uns gegen den Vietnam-Krieg was tun will, der muss schon nach Singen fahren, wo ein damals noch mutiger Günter Heiß den Martin Walser dafür auf die Bühne bringt.

1968: Das Jahr, auf das wir nachher (so grundlos) stolz waren. Was heute noch mancher wie einen Orden vor sich herträgt, eben ein 68-er zu sein, hat sich zumindest in unserer heilen Radolfzeller Welt so nicht erleben lassen. Wir schauen ehrfürchtig nach Berlin, wo Fritz Teufel und andere den erstarrten Rechtsstaat vorführen. Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren, das wird zum Startsignal, alte Ordnungen zu hinterfragen, und siehe da: Die meisten davon waren recht hohl. In Frankreich gerät im Mai General de Gaulle in ernste Bedrängnis, in Amerika fallen Robert Kennedy und Martin Luther King den Mörder-Kugeln zum Opfer. Im August wird die Hoffnung auf den Prager-Frühling und einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz vom Warschauer Pakt zerschlagen. Das Einzige, was in Radolfzell zum Zerschlagen freigegeben wurde, war das "Cafe Achteck, die Anstalt, in der mancher heute so anständiger Radolfzeller das Holzspalten lernen mußte. Im "Residenz" wurde wieder wichtige Aufklärung geleistet, es lief "Helga", der große nationale Aufklärungsfilm, auch für jene, denen es 1964 bei "Das Schweigen" etwas zu dunkel war. Gut, ein bißchen politisiert wurde auch schon. Die F.D.P - damals noch ohne die 2 sinngebenden Punkte zwischen den Buchstaben - brachte 200 Zuhörer ins Kreuz. Es durfte gefragt werden, Prof. Dahrendorf antwortete druckreif. Preisfrage: "Wieviel Personen besuchen heutzutage eine gewöhnliche F.D.P-Versammlung ?" Wir sind wohl alle politikmüde geworden, oder die Inhalte und die Personen stimmen nicht mehr. Das ist der Unterschied zwischen 1968 und 1999.

1969: Wir verlieren Heinrich Lübke als Bundespräsident, er war stets für einen peinlichen Ausspruch gut. Frankreich verabschiedet sich von General de Gaulle, und Neil Armstrong setzt als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond. 1969 musste die CDU nach 30 Jahren an der Macht auf der harten Oppositionsbank Platz nehmen. Willy Brandt will mehr Demokratie wagen. Das wollen wir aber erst einmal im heimischen Bereich probieren. Gegen massiven Widerstand - einige besonders besorgte CDU-Stadträte sehen schon im Voraus ein fürchterliches Drogennest - wird in der alten Langenbach'schen Weinstube Radolfzells erste alternative Kneipe eingerichtet, der unvergessliche "Leierkasten". Neben den sozialen Preisen (es reicht dem Wirt aber dann noch immer für die Anschaffung eines alten Porsches), bleibt mir die beruhigende Wirkung der Musik in Erinnerung. Immer wenn besonders aggressiv ausschauende Typen den "Leierkasten" betraten, wurde die Musik geändert. "Stones" raus und Ravels "Bolero" rein. Selten haben "die Halbstarken" - so hießen sie damals - die zweite Runde Bolero überlebt. Total beruhigt, fast eingeschlafen haben sie den Leierkasten geräumt. Am Weihnachtsabend trafen sich dann die ganz Mutigen zu einer etwas anderen Weihnachtsfeier im Leierkasten und träumten davon, daß 1970 alles besser wird in Radolfzell und anderswo. Tragische Hoffnung oder Realität ? Urteilen Sie selbst, denn über die 70er Jahre brauche ich nichts schreiben.

Winfried A. Pfeffer

Autor:

Redaktion aus Singen

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