Die Mauer steht wieder

Foto: swb-Bild: hennig

6. Mai 2022. Ich stehe vor einem Stück der Berliner Mauer. Und denke: Das war 1989. Maueröffnung. Und jetzt haben wir 33 Jahre später. Eine neue Mauer wächst, vielleicht auch die alte. In unseren Köpfen. Vielleicht war sie immer da. Und in den Köpfen vieler Russen auch. In Putins Kopf sowieso.

Ich lese seit Wochen täglich die Schlagzeilen und denke: Die Mauer steht so schnell wieder, etwas versetzt, sie war wohl nie weg. Die Öffnung, wir - also beide Seiten - haben sie nie ins uns vollzogen. Haben uns weder Zeit noch Raum dafür genommen. Wir haben uns nicht wirklich zugehört in den letzten 33 Jahren. Vielleicht wollten wir hier das auch gar nicht: unsere Werte hatten ja gesiegt.
Wir (beiden Seiten) haben die Vorteile genutzt, unsere Wirtschaftsaktivitäten ausgeweitet, Geld verdient, Infrastruktur des anderen erobert, versucht, die Menschen in den Ländern auf unsere Seite zu ziehen, Werte exportiert oder es zumindest versucht.
Wir hier haben - im Kokon unseres Wohlstandes eingewickelt - vor allem ignoriert: Putins Worte, die Worte der USA, Irakkrieg, Jugoslawienkrieg, Tschetschenienkrieg, Syrienkrieg und vieles mehr. Und damit die Realität ignoriert zugunsten des kurzfristigen Vorteils.

Seit der Maueröffnung haben wir uns nie um echtes Verstehen der Menschen auf den Seiten bemüht, uns nie über die Gemeinsamkeiten auf der einen Seite und die Unterschiede auf der anderen Seite, die zu achten sind, ausgetauscht. Beide Seiten nicht.

Jetzt ist die Mauer wieder sichtbar. Putins Krieg hat sie mit Waffengewalt mitten vor uns gestellt.

Und die Angst ist auch in Deutschland da. Sie spüren vor allem die, denen der Schrecken des zweiten Weltkrieges, von dem wir am Sonntag vor 77 Jahren von Russen, Franzosen, Briten und Amerikanern befreit wurden, noch in den Gliedern sitzt. Die Russen haben die Hauptlast des zweiten Weltkrieges getragen: 17 bis 25 Millionen Menschen sind ihm in Russland zum Opfer gefallen.
Wer sucht jetzt die Löcher in der Mauer? Die Löcher, durch die wir uns gegenseitig sehen können? Wollen wir überhaupt eine zweite Chance, die Mauer abzubauen? Und was würden wir dann anders machen? Nicht die anderen. Wir. Weil wir die anderen nicht in der Hand haben, auch wenn wir es manchmal gerne glauben.

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Eine/r folgt diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.