Boris Palmer im Interview
„Das ist eine menschliche Reaktion, nicht rechtsradikal“
Boris Palmer (52), seit 2007 Oberbürgermeister der Stadt Tübingen und bis 2023 Mitglied bei den Grünen, ist dafür bekannt, die Dinge so anzusprechen, wie er sie sieht. Und das, obwohl er dafür in der Vergangenheit auch schonmal verbale Prügel aus der Politik, der Gesellschaft und in den Medien einstecken musste. Für die Sonderausgabe „Wahrheit“ hat er sich mit dem Wochenblatt zusammengesetzt, um über die Migrationspolitik zu sprechen.
Wochenblatt: Herr Palmer, auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins heißt: „Alle sind willkommen“, und zehn: „Grenzen dicht für alle“ - Wo würden Sie sagen, stehen wir im Moment und wo sollten wir idealerweise hin?
Boris Palmer: Die Skala hätte schon einen Fehler, weil sie nämlich Arbeitsmigration und Asyl zusammenwirft. Deswegen muss ich Ihnen zwei Antworten geben. Bei Arbeitsmigration stehen wir bei sieben und sollten auf eins. Wir brauchen mehr qualifizierte Einwanderung, sonst gibt es in den Krankenhäusern, in den Altenheimen und in den Bäckereien bald niemanden der arbeitet. Und bei Asyl ist es umgekehrt: Da stehen wir bei drei und müssten meiner Meinung nach auf acht oder neun, weil wir in den Kommunen derzeit bereits überlastet sind. Wir können einfach keine Migranten mehr integrieren, weil schon so viele da sind.
Wochenblatt: Wenn Sie die beiden Arten der Migration, also die Arbeitsmigration und das Asyl, nochmal differenziert angucken. Wo sehen Sie jeweils die Probleme?
Boris Palmer: Also bei der Arbeitsmigration sind es Bürokratie und Ressentiments. Man geht nicht gerne in ein Land, wo man den Eindruck hat, dass man Ausländer nicht mag und da haben wir Probleme. Und man geht nicht gerne in ein Land, wo man erst 783 Formulare ausfüllen muss, die man nicht versteht, bevor man irgendwas machen darf. Das müssen wir ändern. Bei Flucht unterscheiden wir nicht zwischen denen, die einen Fluchtgrund haben und denen, die selbstverständlich ein besseres Leben suchen. Das ist nicht dasselbe. Es wird aber alles mehr oder weniger gleichbehandelt und wenn man es mal zu uns geschafft hat, darf man in fast allen Fällen bleiben. Egal welchen Grund man hatte.
Wochenblatt: Aber wo zieht man denn da eine Grenze?
Boris Palmer: Fangen wir mal mit dem Grundgesetz an. Das zieht eine Grenze. Das Grundgesetz sagt, politisch Verfolgte genießen Asyl. Nicht: Arme Menschen genießen Asyl. Eine eindeutige Grenze. Barmherzige Kirchenmänner würden eine andere Grenze ziehen. Das ist also Verhandlungssache.
Wochenblatt: Würden Sie sagen, dass das Modell mit den Abschiebezentren, wie es zum Beispiel Großbritannien mit Ruanda oder Italien mit Albanien ausprobiert haben, eine Möglichkeit wäre, um diese Grenze besser durchzusetzen?
Boris Palmer: Besser wäre es, wenn wir die Verfahren in Europa durchführen könnten und dann alle, die nicht berechtigt sind, von selbst wieder ausreisen. Die Abgelehnten tun das aber nicht. Und die Abschiebung ist europaweit extrem erfolglos. Deswegen finde ich den Vorschlag, die Verfahren außerhalb Europas durchzuführen, pragmatisch und gut. Ob es konkret funktioniert, hängt vom Land ab. Ich finde Albanien da schon sehr viel besser als Ruanda.
Wochenblatt: Wir stehen nicht nur alleine als Bundesrepublik Deutschland da, sondern wir sind Teil einer Gemeinschaft, der EU. Von der EU kommen dann Regeln, in denen Manche Hürden für die nationale Politik sehen. Wie sehen Sie das?
Boris Palmer: Also erstmal müsste man die Frage stellen, ob es denn ohne EU geht? Antwort: Nein, denn da könnten wir unsere Industrie komplett zumachen. Also wir brauchen die EU schon mal als Absatzmarkt. Dann muss man auch gemeinsame Regeln mittragen, auch wenn sie nicht zu 100 Prozent der eigenen Auffassung entsprechen. In der Vergangenheit hieß es, die EU war restriktiver als Deutschland sein wollte. Jetzt gerade dreht es sich ein bisschen und manche behaupten, es liegt an der EU, dass wir zu viele Flüchtlinge aufnehmen müssen. Es liegt nicht an der EU. Man muss eine gemeinsame Politik entwickeln und dabei Kompromisse machen.
Wochenblatt: Aber wie sehr schränkt die EU den Handlungsspielraum der einzelnen Länder ein?
Boris Palmer: Sie schränkt ihn ein. Muss auch so sein. Nehmen wir mal das Beispiel Verteilquote. Wenn nur die Grenzstaaten Flüchtlinge aufnehmen müssen und es danach keinen Verteilprozess gibt, wüsste ich nicht, wie ich das den Griechen und Italienern erklären sollte. Also müssen wir die nationale Souveränität einschränken und gemeinsame Lösungen konstruieren. Alle beteiligen sich an der Lösung des Problems.
Wochenblatt: An welchen Stellschrauben muss man drehen, damit wir eine funktionierende Migrationspolitik bekommen?
Boris Palmer: Reden wir jetzt wieder von Arbeitsmarkt oder von Flucht? Das sind zwei verschiedene Seiten. Beim Arbeitsmarkt ist meine klare Ansage, dass wir viele Bereiche haben, in denen wir dringend Menschen brauchen und denen machen wir es viel zu schwer. Ein ukrainischer Arzt darf in Deutschland viele Jahre nicht arbeiten. Warum eigentlich? Wir sind so fixiert auf unsere Papiere und unsere Standards. Und alle anderen können nichts. Ich übertreibe es, aber so etwa handhaben wir das. Da muss man einfach loslassen und sagen: Wenn jemand schon 20 Jahre praktiziert hat als Arzt, dann wird der wohl eine Grundqualifikation mitbringen.
Und bei Flucht haben wir den entscheidenden Punkt Trennung der Berechtigten von den Unberechtigten schon thematisiert. Wenn die Leute im Land sind, dann braucht es klare Regeln und die muss man auch einfordern. Wir machen den Fehler, sie alle als traumatisiert und benachteiligt wahrzunehmen und dann mit Wattebäuschen zu werfen. Ich bin für klare Ansagen: Das geht bei uns. Und das nicht. Wenn du dich nicht daran hältst, gibt es auch Konsequenzen.
Wochenblatt: Wie viel Integration können die Kommunen überhaupt noch schaffen?
Boris Palmer: Stand heute wäre es für den Erfolg der Integrationsbemühungen am besten, wir müssten keine weiteren Menschen hinzunehmen. Wir können das Personal, um diese Integrationsleistung zu erbringen, gar nicht mehr finden. Ich kriege keine einzige zusätzliche Erzieherin für die Kita. Die Schulen sind gerade so einigermaßen ausgestattet. Die Zeit, sich um besonders förderbedürftige Kinder zu kümmern, ist nicht da. Der Wohnungsmarkt ist eine einzige Vollkatastrophe. Wir bauen jetzt Containersiedlungen, mehrere gleich. Der Landrat hat mir einen Brief geschrieben, die Stadt muss ihm 500 Flüchtlinge abnehmen. Da geht gar nichts mehr. Und das wiederum stresst die Gesellschaft, weil diejenigen, die sich selbst schwertun, eine Wohnung zu finden, verständlicherweise unfroh sind, wenn sie sehen: Da kommen Flüchtlinge dazu und für die wird sofort gebaut. Ich glaube, das kann man niemandem als unmenschlich vorhalten. Das ist eine menschliche Reaktion, nicht rechtsradikal. Das ist, wenn Sie schon über Wahrheit reden, die bittere Wahrheit.
Wochenblatt: Wir können nun nicht einfach die Grenzen zu machen. Was ist die Lösung?
Boris Palmer: Ich setze sehr auf diese neue europäische Asylpolitik. Also: Überprüfung des Anspruchs auf Asyl an der EU-Außengrenze. Ich hoffe erstens, dass das eine abschreckende Wirkung hat, und zweitens, dass wesentlich weniger durchkommen als im bisherigen System. Und im Land können wir natürlich schon versuchen, die Attraktivität gegenüber anderen Staaten in Europa zu verringern. Das haben die skandinavischen Länder sehr erfolgreich gemacht. In Dänemark, in Schweden - das waren früher Top-Zielländer für Fluchtmigration - haben sie mittlerweile Negativmigration erreicht. Das heißt, es gehen mehr Personen, als kommen. Dahin werden wir nicht kommen. Aber das zeigt, der Staat kann sehr wohl auch innerhalb der EU Anreize, im eigenen Land zu bleiben, reduzieren. Und das wird jetzt auch gemacht. Wenn zum Beispiel die Unterstützungsleistungen für ausreisepflichtige Flüchtlinge gestrichen werden, die einen Anspruch in einem anderen Land haben.
Wochenblatt: Aber kommt das nicht zu spät? Die Ressentiments sind ja schon da.
Boris Palmer: Sie haben völlig recht, das kommt viel zu spät. Das beschäftigt mich auch. Im konkreten Fall habe ich 2017 ein Buch geschrieben über all diese Fragen. Das ist einer der Gründe, warum ich heute nicht mehr Mitglied bei den Grünen sein kann. Weil große Teile der Gesellschaft diese Debatte nicht führen wollten. Weil die Probleme, über die wir jetzt gerade offen reden, verschwiegen oder gar tabuisiert wurden. Trotzdem sind die jetzt eingeleiteten Maßnahmen richtig. Und sie werden auch Wirkung haben. Sie werden nur nicht so schnell den Verdruss in der Bevölkerung lösen. Aber es ist nicht aussichtslos.
Wochenblatt: Sie haben die Probleme in der Migrationspolitik schon früher angesprochen. Jetzt hat man das Gefühl, dass Politiker das offener ansprechen. Fühlen Sie da ein bisschen Genugtuung, nach dem Motto: ‚Ich habe es schon vor fünf, sechs, sieben Jahren gesagt, jetzt ziehen sie nach‘?
Boris Palmer: Nein, Genugtuung als Wort passt nicht. Verwirrung trifft es auch nicht ganz. Das ist so etwas wie Ratlosigkeit. Es nützt ja nichts, zurückzuschauen und die Übergänge nicht zu ändern, aber man fragt sich: Hätte es nicht irgendeine Möglichkeit gegeben, das vorher besser hinzukriegen? Was hätte ich anders machen müssen? Wieso ist es nicht gelungen, das zu transportieren? Warum ist der Streit immer weiter eskaliert? Und warum kommt es jetzt so spät? Das lässt einen ratlos zurück.
Wochenblatt: Können Sie sich vorstellen, dass mit den aktuellen Spitzenpolitikern eine gelungene Migrationspolitik hinzubekommen ist, oder braucht es einen Generationenwechsel bei allen Parteien?
Boris Palmer: Nein, das sehe ich nicht. Die aktuellen Spitzenpolitiker sind an sich nicht das Problem. Die sind auch zu Veränderungen in der Lage. Olaf Scholz immerhin hat vor einem Jahr mal dem Spiegel gesagt, dass wir im großen Stil abschieben müssen. Stellen Sie sich vor, ich hätte das vor drei Jahren gesagt, was das für einen Shitstorm gegeben hätte. Also es hat sich schon was verändert.
Wochenblatt: Worte sind das eine, Handlungen sind das andere. Lässt sich da denn was erkennen, dass es in eine andere Richtung geht?
Boris Palmer: Das ist der Fluch, wenn man so spät handelt. Dass dann selbst das, was man schon gemacht hat, nur langsam wirkt und gar nicht gesehen wird. Ich gebe Ihnen mal ein konkretes Beispiel. Wer mit Polizisten redet, der weiß, wie unfassbar die das ärgert, wenn sie in die Flüchtlingsunterkunft gehen und einen abschieben sollen. Die wissen, der ist gerade beim Kumpel nebenan, aber da dürfen sie nicht rein, weil da angeblich die Unverletzlichkeit der Wohnung dagegensteht. Da denkst du doch, du arbeitest für einen Staat, der irgendwie nicht ganz bei Trost ist. Da ist einer, der hat im Land nichts verloren, und der geht auf die Toilette oder zum Kumpel im Nebenzimmer und schon ist er sicher.
Das ist aber nicht mehr so. Das Gesetz wurde dieses Jahr geändert. Jetzt dürfen Polizisten in die ganze Flüchtlingsunterkunft, auch in das Zimmer des Kumpels. Das sind wichtige, konkrete, praktische Änderungen, die man machen muss, damit das System wieder funktioniert. Und von denen gibt es tatsächlich einige, auch wenn die jetzt noch nicht so groß bemerkt werden. Es wird besser.
Das Interview führten Anja Kurz und Tobias Lange
Autor:Redaktion aus Singen |
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