KKH-Psychologin: Nachwuchs stärken
Angst und Anorexie als Folgen der Pandemie?
Singen. Homeschooling, fehlende soziale Kontakte, eingeschränktes Bildungs- und Sportangebot, ständig wechselnde Hygienevorschriften, und vor allem die Ungewissheit, wann der Alltag wieder normal weitergeht: Die lange Dauer der Pandemie hat bei jungen Menschen deutliche Spuren hinterlassen. Dies macht sich neuen Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse zufolge besonders in Form von Ängsten und einem gestörten Essverhalten bemerkbar.
Die Analyse von rund 200.000 KKH-Versicherten im Alter von 6- bis 18-Jahren zeigt, dass vor allem die Jugendlichen betroffen sind. So haben diagnostizierte Angststörungen wie Panikattacken und allgemeine Angstzustände bei den 13- bis 18-Jährigen von 2019 auf 2020 um rund 9 Prozent zugenommen. Bei Essstörungen wie Magersucht und Bulimie stellt die KKH in dieser Altersgruppe ein überproportionales Plus von rund 7 Prozent fest. In der Regel zeigen Jahresvergleiche eine Veränderung von maximal 3 bis 4 Prozent.
Viele Belastungen auf einmal lassen das Fass überlaufen
Ob dieser Anstieg schlussendlich mit Covid-19 zusammenhängt, ist laut KKH-Psychologin Franziska Klemm zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erwiesen. Unstrittig ist allerdings, dass eine lang andauernde Krise wie die Corona-Pandemie für jüngere Menschen besonders belastend ist, denn diese befinden sich in einer wichtigen Entwicklungsphase, in der sie ganz besonders auf haltgebende Strukturen angewiesen sind. Außerdem können sie im Gegensatz zu Erwachsenen bedrohliche Situationen wie eine Pandemie mangels Lebenserfahrung noch nicht entsprechend einordnen und relativieren.
„Wenn viele Belastungen zusammenkommen und stärkende Faktoren wie der Austausch mit Freunden, Hobbys oder ein geregelter Alltag in der Pandemie wegfallen, kann das die psychische Gesundheit gefährden“, sagt Klemm. Angststörungen bei Jugendlichen können außerdem an eine gewisse Zukunftsangst gekoppelt sein: Komme ich in der Schule noch mit? Schaffe ich meine Prüfungen? Werde ich mir mein soziales Umfeld wieder so aufbauen können wie vor der Pandemie? Kommt eine neue Krise? Die Zunahme von Essstörungen kann wiederum einer stärkeren Beschäftigung mit sozialen Medien und den dort vermittelten Bildern, schlechterer Ernährung sowie mangelnder Bewegung während der Lockdown-Phasen geschuldet sein, was im Nachgang zu gefährlichen Diätformen beziehungsweise zu einer gestörten Selbstwahrnehmung führen kann.
Anteil 6- bis 18-Jähriger mit psychischen Diagnosen in Berlin am größten
Im ersten Corona-Jahr 2020 waren insgesamt rund 13 Prozent der 6- und 18-jährigen KKH-Versicherten von einer psychischen Erkrankung betroffen, darunter neben Angst- und Essstörungen auch von Anpassungsstörungen und depressiven Reaktionen auf schwere Belastungen, von Burnout, Depressionen und Schlafstörungen. In Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sind sogar rund 15 Prozent der Schüler erkrankt. Das sind die bundesweit höchsten Werte. In Nordrhein-Westfalen hingegen ist der Anteil an Schülern mit seelischen Leiden mit 10 Prozent deutschlandweit am niedrigsten. Die Dunkelziffer dürfte aber noch weitaus höher sein, denn die KKH-Daten erfassen nur ärztlich diagnostizierte Fälle, und bis zu einer solchen Diagnose ist es oft ein langer Weg. „Bevor es überhaupt zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen kommt, klagen Kinder häufig zunächst über psychosomatische Beschwerden wie Kopf-, Bauch- und Magenschmerzen. Die einen sind außerdem schneller gereizt, die anderen sind traurig und ziehen sich zurück“, erläutert die KKH-Psychologin. „Auch solche Symptome müssen wir sehr ernst nehmen.“
Angststörungen, Depressionen & Co. seit Jahren auf dem Vormarsch
Weitere KKH-Daten zeigen, dass psychische Erkrankungen, die durch emotionalen Stress und Konflikte entstehen können, nicht erst seit der Pandemie, sondern bereits seit Jahren zunehmen, besonders bei Jugendlichen. Einerseits ist dies auf eine zunehmende Sensibilität für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zurückzuführen, die begrüßenswert ist. Anderseits spielen auch Entwicklungen wie hoher Leistungsdruck durch Schule und Eltern, Mobbing in sozialen Netzwerken, Versagensängste und schwierige soziale Familienverhältnisse eine Rolle. So sind die Diagnosen von Depressionen bei den 13- bis 18-jährigen KKH-Versicherten von 2010 auf 2020 um fast das Doppelte angestiegen. Es folgen Angststörungen mit rund 83 Prozent, Schlafstörungen mit rund 46 Prozent und Essstörungen mit plus 37,5 Prozent. Eine deutliche Zunahme bei den jüngeren 6- bis 12-Jährigen verzeichnet die KKH bei Anpassungsstörungen und depressiven Reaktionen auf schwere Belastungen sowie bei Burnout (plus rund 42 beziehungsweise 36 Prozent). Das zeigt, dass schon vor der Krise immer mehr Schüler Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung hatten.
Ähnlich wie sich diese psychischen Erkrankungen über viele Jahre entwickelt haben, werden sich auch die Folgen der Pandemie erst mit zeitlichem Versatz bemerkbar machen. Außerdem zeigt etwa der aktuelle Krieg in der Ukraine, dass es immer wieder neue Ereignisse und Krisen geben wird, die Kinder und Jugendliche emotional fordern und stark belasten können. Auch der fortschreitende Klimawandel löst Zukunftsängste beim Nachwuchs aus.
„Daher ist es wichtig, ein besonderes Augenmerk auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu legen. Wir müssen sie in ihrer Entwicklung und eigenen Widerstandskraft stärken und entsprechende Hilfesysteme fördern“, betont Franziska Klemm. Dabei müsse man auch im Blick behalten, dass jeder einzelne anders auf solche Belastungen reagiere.
Die KKH bietet zahlreiche Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche an und arbeitet mit dem Deutschen Zentrum für Präventionsforschung (DZPP) zusammen, um die psychosoziale Gesundheit von Kindern zu stärken und ein gesundes Aufwachsen zu fördern.
Autor:Presseinfo aus Singen |
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