1979 Jahre nach Christus II
Die konkrete Utopie
Eins ging nicht im Hegau, und da sahen wir unsere Marktchance (so allerdings hätten wir es damals nicht genannt): die andere, die alternative und subversive Kultur live zu erleben. Ob Free Jazz, Weltmusik, freie Theatergruppen, ein nicht-kommerzielles Kinoprogramm: zwischen Villingen-Schwenningen und Konstanz dehnte sich da eine Wüste. Wir schufen in Arlen eine Oase, holten Künstler in die "Gems", die von den Dürstenden begrüßt, von den Satten als Störer abgelehnt wurden und die heute zum üblichen Programmangebot der Kulturämter jeder Kleinstadt gehören. Wir hatten manche Häuslesbauer in der Nachbarschaft gegen uns und ihre Kinder hinter uns.
Bei diesen Eigenheimbesitzern im Arlener Neubaugebiet, an sinnlos breit asphaltierten, leblosen Straßen wohnend, die zugelassen hatten, daß ihr Dorfgasthaus erst zum Wohnheim und dann zum Möbellager verkommen war, die über unseren Haschischkonsum phantasierten, aber nie einen Fuß in die Gems setzten, aus Angst, dort ihre Kinder zu treffen, die stattdessen den ruhestörenden Lärm gelegentlicher Konzerte der Polizei anzeigten - während unsere hart arbeitenden unmittelbaren Nachbarn, der Bauer und der Bäcker, sich darüber nie beklagten: bei diesen Eigenheimbesitzern in Arlen fand ich sie, die sturdumme Provinz, aber auch nicht mehr als anderswo. Drei Wochen wohnte ich schon in dem Dorfgasthaus, hatte bei meinen Einkäufen das Singener Stadtzentrum mehrmals kreuz und quer durchstreift und wollte endlich wissen, wo denn hier das Stadtzentrum sei?
Info:
Provinz - das ist überall und nirgends. Davon waren sie überzeugt, die vier Marburger StudentInnen und der im Landkreis lebende, aber aus Norddeutschland stammende Sozialarbeiter und spätere Weinhändler, die an Weihnachten 1978 das alte Dorfgasthaus "Gems" in Arlen als Kulturzentrum eröffneten. Fünf Zugereiste, die dies nicht als Rückzug in die Provinz empfanden, die sich vielmehr den Hegau aneignen, zu ihrer Heimat machen, ihn kulturell beleben wollten. Ich stieß, aus Bremen kommend, im Oktober 1979 dazu, und ich dachte wie die anderen: im Zeitalter der Massenmedien und der allgemeinen Motorisierung gibt es keine Provinz mehr - es sei denn, in den Köpfen, und da kann sie sich genausogut in Kreuzberg wie in Arlen breitmachen. Wobei 1979 von Internet noch nicht einmal die Rede war.Marktplatz, paar alte Häuser, Kirche und so..mußte es doch irgendwo geben. Gab's aber nicht, wie ich dann begriff: was ich gesehen hatte, war schon das Zentrum. Die Liebe zu einer Heimat auf Zeit kam dann aber doch. Zu einer Stadt, die ein aufnahmebereiter Schmelztiegel für Zuwanderer war und ist, weniger spießig als Konstanz, dem nur von der Universität noch Leben eingehaucht wurde. Wir fanden, jeder für uns, verschiedene Heimaten im Hegau. Die Nachtbars von Singen, die Landschaft von Hegau und Höri, wo die Lieferanten für die Gems-Küche ackerten, die Spaziergänge über die Grenze von Arlen zu unseren Schweizer Freunden in Wiesholz…
Und wir spannen unser eigenes Netz: zu den Initianten des heutigen Konzertbüros Konstanz, die damals noch hinterm Zapfhahn schafften, zu aufgeschlossenen Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Architekten und Künstlern. Heinz Rheinberger unterstützte uns, Walafried Schrott, Friedhelm Möhrle, die Singener Jusos. Unsere eigentliche, gemeinsame Heimat schufen wir uns selbst in der "Gems". Morgens, beim Planungsfrühstück im staubigen Hof neben trocknenden Weinfässern, oder nächtens, beim Essen nach der Show mit Dollar Brand oder Gunter Hampel. Wir machten alles selbst, arbeiteten viel, zahlten uns allen den gleichen Lohn (auf Sozialhilfeniveau, und ohne jede Altersvorsorge); wir waren gegen die Konsumkultur, wir wollten nichts besitzen, sondern leben. Die "Gems", Arlen, Singen: zwanzig Jahre habe ich dort gelebt und mich nun endgültig vom Hegau verabschiedet - aber dort habe ich, das einzige Mal in meinem Leben, versucht, eine konkrete Utopie zu verwirklichen.
Eggert Blum
Autor:Redaktion aus Singen |
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