Über Wahrheiten von Patienten und Ärzten
„Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit“

In der großen Werner Messmer-Klinik auf der Mettnau dreht sich alles um das Thema Gesundheit - ums Gesundwerden und Gesundbleiben. | Foto: of/Archiv
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  • In der großen Werner Messmer-Klinik auf der Mettnau dreht sich alles um das Thema Gesundheit - ums Gesundwerden und Gesundbleiben.
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Radolfzell. Um gesund zu sein und zu bleiben, gibt es die unterschiedlichsten Empfehlungen: nicht Rauchen, kein Alkohol, 10.000 Schritte am Tag, eine ausgewogene Ernährung. Aber ist Gesundheit letztendlich nicht super individuell und subjektiv? Und wie geht ein Arzt mit diesen subjektiven Empfindungen seiner Patienten um? Darüber hat sich das WOCHENBLATT mit Dr. Robin Schulze, Chefarzt der Reha-Kliniken Mettnau, unterhalten.

Dr. Robin Schulze ist Chefarzt der Mettnau-Kliniken | Foto: Andreas Kochlöffel
  • Dr. Robin Schulze ist Chefarzt der Mettnau-Kliniken
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WOCHENBLATT: Herr Dr. Schulze, was ist gesund?

Dr. Schulze: Die bestmögliche Definition von Gesundheit versucht man seit langem zu finden und das fällt schwerer als gedacht. Gesundheit ist per Definition nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern das physische und psychische Wohlbefinden. Eine ganze Wissenschaft beschäftigt sich damit, mit dem Ziel besser zu verstehen, was für Patienten am wichtigsten ist und was wir für sie tun können. Die zwei großen Stränge sind Lebenszeit und Lebensqualität. Die Medizin bemüht sogenannte „QUALYs“, das heißt Qualitätslebensjahre. Da versucht man dieses komplexe Thema in einen Index zu bringen, indem man schwerkranke Menschen, zum Beispiel mit einer Querschnittslähmung, fragt: „Wenn sie wieder gehen könnten, wie viele Lebensjahre wären sie bereit herzugeben?“ So versucht man herauszufinden, wie sehr eine Erkrankung qualitativ und quantitativ auf das Leben einwirkt.

WOCHENBLATT: In diesem Kontext ist mir auch mal das biopsychosoziale Gesundheitsmodell begegnet.

Dr. Schulze: Richtig, es gibt das biopsychosoziale Modell, das auf die engen Zusammenhänge zwischen biologischer und psychischer Gesundheit, sowie sozialer Integration gerade bei chronischen Erkrankungen und Einschränkungen eingeht. Das bedeutet die Grenzen sind fließend, die drei Themen beeinflussen sich gegenseitig. Da sind wir auch schon bei der therapeutischen Herangehensweise für den gesamten Bereich Rehabilitation. Die Deutsche Rentenversicherung und der medizinische Expertenrat für das Thema Rehabilitation arbeiten auch mit dem biopsychosozialen Modell.
Das definiert Gesundheit einmal über etwas Biologisches. Wie gesund bin ich? Und wie steht es um die einzelnen Organsysteme? Dann: Wie gesund bin ich psychisch? Wie beeinflusst meine körperliche Krankheit meine Psyche? Und wie beeinflusst meine psychische Gesundheit mein körperliches Wohlbefinden? Sozial heißt: Es macht einen Riesenunterschied, ob ich meine Krankheit auf mich allein gestellt oder mit guter sozialer Unterstützung bewältigen muss. Kurzum: Wie geht mein persönliches Umfeld, mein Arbeitgeber, die Gesellschaft mit Krankheit und dadurch bedingten Einschränkungen um?

WOCHENBLATT: Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) gibt ja zum Beispiel auch bestimmte Empfehlungen zum Thema Gesundheit heraus. Wenn ich mich an solche Empfehlungen halte, bin ich dann automatisch gesund?

Dr. Schulze: Auf gar keinen Fall, das ist damit nicht gemeint. Man kann sich das mehr so vorstellen: Wie erhöhe ich die Wahrscheinlichkeit, meine Gesundheit dauerhaft zu erhalten? Welche Risiken erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass mich Folgekrankheiten erwischen? Aber den Faktor Schicksal, Zufall oder wie immer Sie das nennen möchten, den werden wir natürlich nicht ausschalten. Sie können sich hundertprozentig gesundheitskonform verhalten und trotzdem schwer chronisch krank werden. Das ist ein Modell, das nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten kann. Aber die Wahrscheinlichkeiten sind zum Teil sehr, sehr stark. Nehmen wir häufige Risikofaktoren wie Bewegungsmangel, Übergewicht, Bluthochdruck oder Rauchen – sie können unserer Gesundheit und speziell dem Herz-Kreislaufsystem massiv schaden und gelten als Hauptverursacher, zum Beispiel für Herzinfarkt oder Schlaganfall.

WOCHENBLATT: Gesundheit ist etwas sehr Subjektives. Anders als etwa der Puls lässt sich dabei Vieles nicht einfach messen. Wie geht man als Arzt damit um?

Dr. Schulze: Das ist tatsächlich ganz schwierig. Es gibt Versuche das zu quantifizieren, in Form von Schmerzskalen von eins bis zehn beispielsweise. Ich frage auch sehr gerne den Stresspegel ab: Wie gestresst waren Sie? Wie viel Angst haben Sie in letzter Zeit vor dem Thema Krankheit? Wie sehr beeinträchtigt Sie Ihre Erkrankung körperlich oder seelisch? Wir müssen uns nur immer darüber klar sein: Das ist komplett subjektiv und lässt sich sehr schwer objektivieren.

WOCHENBLATT: Man ist als Arzt darauf angewiesen, dass der Patient einem die Wahrheit sagt. Wissen kann man es aber nicht. Wie geht man als Arzt damit um?

Dr. Schulze: Was sie sagen, trifft teilweise zu und teilweise nicht zu. Wir können am Patienten Untersuchungen vornehmen, die uns beispielsweise zweifelsfrei sagen: Dieser Patient hat eine eingeschränkte Herzleistung. Dann wissen wir das vielleicht noch vor dem Patienten.
Aber für die Angaben zur Krankengeschichte und zu den Symptomen, da sind wir natürlich völlig auf die subjektive Wahrnehmung und die Ehrlichkeit des Patienten angewiesen.
Wie gehen wir damit um? Wir haben verschiedene Informationsquellen. Gerade im Rehazentrum haben wir häufig Berichte von anderen Ärzten oder Kliniken, aus denen bestimmte Diagnosen oder Einschränkungen hervorgehen.
Noch dazu ist es sehr wichtig, dass wir uns Zeit nehmen für ein Gespräch, in dem es um Wahrheit geht, wenn wir denken, dass das von Bedeutung ist. Ein Patient, der zu einem Arzt oder einer Ärztin noch gar kein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, der wird vielleicht über die wahren Themen, die ihn am meisten beeinträchtigen, nicht sprechen wollen. Aber manchmal darf man den Begriff Wahrheit auch nicht überfrachten. Es ist oft so, dass Menschen uns etwas nicht mitteilen wollen. Absichtlich, weil sie dann Befürchtungen haben. Manchmal ist es aber auch eher ein Verdrängen. Vertrauen und Zeit sind zwei wichtige Aspekte, um sich miteinander der Wahrheit anzunähern.

WOCHENBLATT: Ist es in der Art und Weise, wie das Gesundheitssystem in Deutschland funktioniert, überhaupt möglich, dafür Zeit und Vertrauen aufzubringen?

Dr. Schulze: Ich nehme immer wieder wahr, dass Leute das Gesundheitswesen - auch zu Recht - kritisieren. Ich nehme aber auch wahr, dass es oft Menschen gibt, die ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zu ihrem Haus- oder Facharzt haben.
Es ist leichtfertig aus einem Zeitgeist heraus zu sagen: Es ist alles schlecht. Ja, wir sollten die Probleme sehen und benennen. Aber wir sollten auch sehen, dass in Krankenhäusern, Facharztpraxen, Hausarztpraxen und Rehakliniken durchaus tragfähige Vertrauensverhältnisse entstehen können. Auch genügend Zeit ist dafür ein wichtiger Faktor, der leider oftmals nicht ausreichend zur Verfügung steht.

WOCHENBLATT: Welche Probleme sehen Sie im Gesundheitssystem?

Dr. Schulze: Wir haben im internationalen Vergleich, wissenschaftlich betrachtet, ein recht teures und im Verhältnis dazu zu ineffizientes Gesundheitswesen. Das bescheinigen uns verschiedene internationale Organisationen und das sagt auch Gesundheitsminister Lauterbach. Tragisch ist in Deutschland, dass dann leider nicht der erste Impuls ist: Wie kriegen wir es besser hin? Sondern: Wo ist der Schuldige? Ein Gesundheitswesen ist immer so, wie es über die letzten Jahrzehnte entwickelt wurde. Diese Kontinuität sollte man nicht aus den Augen verlieren. Die Segmentalisierung ist auch ein Problem in Deutschland. Wir haben beispielsweise Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, Rehakliniken. Der Informationsfluss zwischen diesen Institutionen könnte verbessert werden.

WOCHENBLATT: Wenn ein Patient Schmerzen hat, dann ist das für ihn die Wahrheit. Das lässt sich aber nicht objektiv feststellen. Wie gehen Sie als Arzt mit so einer Art Wahrheit des Patienten um?

Dr. Schulze: Das betrifft nicht nur Schmerzen, sondern den gesamten Bereich, wie stark den Patienten etwas beeinträchtigt. Da kann ich nur die subjektive Wahrheit als Realität annehmen. Es nützt wenig, wenn ich dann sage: „Ich habe schon viel schlimmere Fälle gesehen.“ Als Ärzte müssen wir dann mit ein bisschen Berufserfahrung und Geschick versuchen, das abzugrenzen. Bei Menschen, die uns offensichtlich etwas vorgaukeln, ist die nächste Frage: Warum macht diese Person das? Gesellschaftliche Normen und Zwänge spielen da auch eine Rolle.
Für mich sind die allergrößten Gefühle und Emotionen, die wir haben, auch die stärksten Triebfedern für jede Art von menschlicher Entwicklung. Ohne Liebe, Trauer, Leid und Schmerz passiert auf der Welt wenig. Und ausgerechnet diese wichtigen Emotionen sind schwer messbar.

WOCHENBLATT: Auch umgekehrt kommt es sicher vor, dass Patienten ärztlichen Rat nicht als „Wahrheit“ annehmen. Zum Beispiel was eine Diagnose betrifft oder wenn es darum geht, mit dem Rauchen aufzuhören. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Dr. Schulze: Das ist ein ganz heikles Thema. Generell gilt: Je höher die persönliche Betroffenheit, desto eher sind Patienten erreichbar, um zum Beispiel langfristig ihre Gesundheit wichtiger zu nehmen oder notwendige Medikamente einzunehmen. Bei gesundheitlichen Risikofaktoren ist das oft schwierig, weil diese selbst zunächst keine größeren Beschwerden verursachen. Wir im Rehazentrum halten Informationen für sehr wichtig. Deshalb gehen wir da zum Beispiel über Vorträge heran, um Hintergründe besser verständlich zu machen, in der Hoffnung, dass Betroffene erkennen, warum sie ihr Verhalten ändern sollten. Dazu braucht es die Einsicht des Patienten. Es gibt verschiedene Player im Gesundheitswesen, die jeweils einen anderen Fokus haben. Der Patient kann sich dann aussuchen, was er glauben will. Auch das gehört wohl zur Wahrheit in der heutigen Informations- und Meinungsvielfalt. Dabei werden aber auch einfache Botschaften verwischt. Fest steht: Gesund leben ist gesund – und kann viele Krankheiten vermeiden helfen.
Für viele Menschen wird Gesundheit im Leben erst dann wichtig, wenn sie beginnt verloren zu gehen. Bis dahin denken vielleicht zu viele Menschen: Wird schon gut gehen.

In der großen Werner Messmer-Klinik auf der Mettnau dreht sich alles um das Thema Gesundheit - ums Gesundwerden und Gesundbleiben. | Foto: of/Archiv
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Autor:

Anja Kurz aus Engen

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