Großbaustelle Hausarztversorgung
"Planwirtschaft in der Medizin von vorne bis hinten"

Den Hausärzten, nicht nur in unserer Region, fehlt der Nachwuchs. Grund dafür sind mitunter die „Unsinnsbürokratie“ und die wenig flexiblen und attraktiven Arbeitszeiten. swb-Bild: VectorRocket | stock.adobe.com
  • Den Hausärzten, nicht nur in unserer Region, fehlt der Nachwuchs. Grund dafür sind mitunter die „Unsinnsbürokratie“ und die wenig flexiblen und attraktiven Arbeitszeiten. swb-Bild: VectorRocket | stock.adobe.com
  • hochgeladen von Tobias Lange

Landkreis Konstanz/Gottmadingen. Vergangene Woche ging es um die Zahlen, Daten und Fakten der hausärztlichen Bedarfsplanung, nun soll es darum gehen, wie diese zustande kommen und welche Schwierigkeiten in den Praxen vor Ort auftreten - auch abseits der Bedarfsplanung.

Dr. Christoph Graf war Delegierter des Hausärzteverbands und unter anderem im Vorstand der Ärztekammer. Seit über 25 Jahren arbeitet der Allgemeinmediziner in seiner Praxis in Gottmadingen und zeigt im Gespräch mit dem WOCHENBLATT auf, wo er die größten Baustellen in der hausärztlichen Grundversorgung sieht.

Medizinische Planwirtschaft

So gebe es bereits bei der Bedarfsplanung einen maßgeblichen „Strickfehler“: Zwar werde diese nachbearbeitet und korrigiert, doch das zugrunde liegende Verhältnis, wie viele Einwohner ein Arzt im Durchschnitt versorgen kann, sei seit der Einführung nicht angepasst worden. Dadurch bleibe auch die 30-jährige medizinische Entwicklung in der Zwischenzeit nicht berücksichtigt. „Das ist Planwirtschaft in der Medizin, von vorne bis hinten“, fasst der Allgemeinmediziner seine Ansicht zusammen.

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Nur etwa jeder vierte Hausarzt im Landkreis Konstanz ist jünger als 50

Generell wirken sich ihm zufolge heute viele Regeln aus, die durch Horst Seehofer als Gesundheitsminister eingeführt wurden. Durch eine Altershöchstgrenze beispielsweise eröffneten damals sehr viele Ärzte aus der Generation „Babyboomer“ noch eine eigene Praxis. „Das sind viele Kollegen, die jetzt in Rente gehen“, berichtet Graf, was heute schon maßgeblich für die hausärztliche Mangelversorgung sei. Allein in Singen seien derzeit 13,5 Stellen unbesetzt, ab Sommer dann sogar 15, so die Aussage des Singener Urologen Franz Hirschle.

Multimorbidität

Dabei sind die Praxen selbst gefüllt mit zunehmend mehr, älteren und komplexeren Patienten. Diese „Multimorbidität“, mit vielen Krankheitsbildern zugleich, ist ein Resultat der Langlebigkeit des Menschen und „fordert und überfordert“ Ärzte in ihrer Arbeit, so Christoph Graf. Das gelte auch für das Personal in Krankenhäusern: „Früher wurde bei der Behandlung noch rechts und links geschaut. Heute wird nur noch das behandelt, was auf der Überweisung steht.“ Die Ursache vermutet er in dem hohen wirtschaftlichen Druck, unter dem Krankenhäuser stehen.

"Facharbeiterprobleme"

Zudem wirkt sich der Fachkräftemangel auch in den Hausarztpraxen aus. „Wir haben Facharbeiterprobleme, wie alle anderen Firmen“, unterstreicht Christoph Graf. Blutabnahmen und andere Tätigkeiten, die sonst medizinische Fachangestellte übernehmen, werden Aufgabe der Ärzte selbst oder bleiben unerledigt. In Teilzeitanstellungen sieht er eine Möglichkeit, dieses Defizit zumindest etwas abzufangen.

"Sinnfreie Datenfriedhöfe"

Mit der „Unsinnsbürokratie“ nennt der Gottmadinger Hausarzt den seiner Meinung nach größten Stolperstein. Hier sehe er sich täglich konfrontiert „mit sinnfreien Datenfriedhöfen, die nicht zum Vorteil der Praxen und Patienten sind. Wenn dann ein Bürokratieabbau angekündigt wird, ist eigentlich schon klar: Es kommt noch mehr dazu.“ Auch die mangelhafte Digitalisierung erschwere die Arbeit und Kommunikation im Gesundheitssektor, da die Systeme, beispielsweise der Praxen und Krankenkassen, nicht miteinander kompatibel seien und einander so zum Absturz bringen.

Hausärztliche Versorgungszentren als Chance

Alles in Allem seien dies Arbeitsumstände, die Nachfolger aus den hausärztlichen Praxen weitgehend fernhalten - spätestens, wenn sich die jungen ÄrztInnen vor Ort ausprobierten, erzählt der Allgemeinmediziner. Eine Möglichkeit, um diese Herausforderungen abzufedern, sieht er in medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die hausärztlich arbeiten. „Dort haben dann auch junge Ärzte die Option einer Festanstellung oder von Teilzeitmodellen.“
Dabei sind hausärztliche MVZ klar zu unterscheiden von solchen, die bereits etabliert wurden, um Krankenhäuser zu entlasten und die eher chirurgisch arbeiten. Hausärztliche Vorbilder gebe es bereits in Bayern und Niedersachsen, allerdings meist mit einem Haken: „Viele der hausärztlichen Versorgungszentren sind dort in privatwirtschaftlicher Hand.“ Das erwirtschaftete Geld fließe dann meist ins Ausland. „Es gibt aber auch gute Modelle von genossenschaftlich und ärztlich geführten hausärztlichen MVZ.“ Aktuell seien ihm Gespräche über ein hausärztliches MVZ in Singen und Radolfzell bekannt.

Wie kommt die Bedarfsplanung eigentlich zustande?

Grundlage der Bedarfsplanung sind verschiedene Verhältniszahlen (VHZ), die sich aus den Arzt- und Einwohnerzahlen, sowie der Geschlechter- und Altersverteilung zusammensetzt und regional angepasst wird. Am Ende steht die „Regionale Verhältniszahl“, aus der dann die Soll-Ärztezahl (Einwohnerzahl geteilt durch regionale VHZ) errechnet wird.

Anpassung im Herbst 2023

Diese Verhältniszahlen, erklärt Gabriele Kiunke, Pressereferentin der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), seien zuletzt im Sommer 2021 aktualisiert worden. Die nächste Anpassung erfolge voraussichtlich im Herbst 2023. „Dabei wird das Versorgungsniveau pro Planungsbereich kontinuierlich anhand der jeweils aktuellen Einwohnerzahl fortgeschrieben und an die regionale Morbiditätsstruktur mittels Korrekturfaktoren angepasst.“

Nicht am Bedarf orientiert

Dabei könnte die Bedarfsplanung und damit auch die Berechnungszahlen aber nicht den Anspruch erheben, den Bedarf der Bevölkerung widerzuspiegeln. „Die Bedarfsplanung ist von der damaligen Bundesregierung Anfang der 90er Jahre eingeführt worden, um den Kostenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen und damit den Beitragssatz stabil zu halten. Etwas überspitzt ausgedrückt, orientieren sich die Verhältniszahlen und damit die Zahl der möglichen Ärzte und Psychotherapeuten an den zur Verfügung stehenden Mitteln und nicht am Bedarf der Bevölkerung“, erklärt die KVBW-Sprecherin. „Die Bedarfsplanung deckt längst nicht mehr die Realität ab“, sagte auch Baden-Württembergs Landesgesundheitsminister Manne Lucha nach der Gesundheitsministerkonferenz am Montag und äußerte zudem die Absicht, "die Grundlagen der Bedarfsplanung zu reformieren."
Auch dürfe die Bedeutung der Bedarfsplanung nicht überschätzt werden. „Denn mehr Arztsitze bedeuten keineswegs mehr Ärzte.“ Das zeige sich darin, dass in vielen Arztgruppen Arztsitze frei seien, aber nicht besetzt werden könnten. „Das Problem besteht daher nicht darin, dass Ärzte sich aufgrund der Bedarfsplanung nicht niederlassen können, sondern dass es zu wenige Ärzte gibt, sodass auch die bestehenden Praxen nicht nachbesetzt werden können.“

Autor:

Redaktion aus Singen

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