Freizeit, Arbeitsverdichtung und Wochenarbeitszeit
Warum es um mehr geht, als nur um eine X-Stunden-Woche

Markus Ruf (links) ist Geschäftsführer mehrerer Unternehmen, darunter "Ruf und Keller Metallbautechnik" in Tengen-Watterdingen. Thomas Weisz (links) ist Gewerkschaftssekretär bei verdi und dort hauptsächlich für den öffentlichen Dienst zuständig. Zuvor arbeitete er in der Pflege. | Foto: Anja Kurz
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  • Markus Ruf (links) ist Geschäftsführer mehrerer Unternehmen, darunter "Ruf und Keller Metallbautechnik" in Tengen-Watterdingen. Thomas Weisz (links) ist Gewerkschaftssekretär bei verdi und dort hauptsächlich für den öffentlichen Dienst zuständig. Zuvor arbeitete er in der Pflege.
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Kreis Konstanz. Die Arbeitswelt befindet sich in einer paradoxen Lage: Einerseits sorgt eine schwächelnde Wirtschaft für schlechte Omen. Andererseits sind aber Themen wie die Work-Life-Balance oder eine Vier-Tage-Woche vielleicht so präsent wie nie. Kann das zusammenpassen? Wollen die Menschen überhaupt weniger Arbeiten? Darüber gesprochen hat das WOCHENBLATT mit Markus Ruf, unter anderem Geschäftsführer des Metallbauunternehmens Ruf und Keller aus Tengen-Watterdingen, sowie Thomas Weisz, Gewerkschaftssekretär bei verdi.

WOCHENBLATT
: Müssen die Menschen eher mehr oder eher weniger arbeiten?

Ruf: Sowohl als auch. Es gibt bei uns im Unternehmen Mitarbeitende, die sagen, sie wollen mehr verdienen, mehr arbeiten. Und dann gibt es natürlich auch die andere Personengruppe, die sagt: Wir wollen eigentlich lieber weniger arbeiten. Das sind meine Erfahrungen. Bei uns sind es oft die Leute mit Migrationshintergrund, die mehr arbeiten wollen, als Leute, die schon über Generationen in Deutschland leben.

Weisz: Ich tue mir schwer, die Frage pauschal zu beantworten. Letztendlich ist das ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, im Sinne der Tarifautonomie. Wir haben eine Wochenarbeitszeit, die sich so zwischen 38 und 39 Stunden bewegt, wenn ich Vollzeit arbeite. Faktisch haben wir aber eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 35 Stunden, weil ganz viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen in Teilzeit arbeiten. Dann kommt noch hinzu, welchen Bereich ich anschaue. Für die Industrie fehlt mir der Einblick, aber wenn ich jetzt an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Krankenhaus oder aus der Kita denke, erlebe ich da andere Fragestellungen. Theoretisch habe ich eine bestimmte Wochenarbeitszeit. Aber faktisch baue ich Überzeiten auf, weil die Leute fehlen und ich kurzfristig einspringen muss. Da wird es kompliziert, zu sagen: Wir verkürzen jetzt die Wochenarbeitszeit. Weil da habe ich im Zweifelsfall gar nichts davon, wenn ich dann trotzdem einspringen muss. Da geht es um eine Kompensation im Sinne von zusätzlichen freien Tagen. Aber da wird ja nicht etwas produziert. Sondern es geht darum, eine bestimmte Versorgungslage, die politisch definiert ist, aufrecht zu erhalten.
Was wir in einer Tarifrunde fordern, ergibt sich ja nicht daraus, dass ich überlege: Was wäre jetzt vielleicht gut für die Leute; sondern aus Befragungen unter den Mitgliedern. Als Gewerkschafter und Lobbyist für lohnabhängig Beschäftigte stehen wir natürlich ganz grundsätzlich für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Wenn wir uns das aber konkret angucken, dann ist das nicht unbedingt immer, worum es den Leuten geht.

Ruf: Warum setzen Sie sich dafür ein, dass die Leute weniger arbeiten sollen oder müssen? Schauen Sie, mein Tag besteht nicht aus acht Stunden, meine Woche besteht nicht aus fünf Tagen und meine Woche besteht auch schon gar nicht aus 40 Stunden. Meine Arbeitswoche beginnt am Montagmorgen um 6 Uhr und endet im Regelfall am Samstagnachmittag. In dieser Zeit bin ich 24 Stunden für jegliche Bedürfnisse des Unternehmens da. Meine Arbeit ist nicht mein Feind, meine Arbeit ist mein Freund. Wo ich das für mich entschieden habe und dass ich auch zulasse, dass mein Privatleben sich mit meinem Arbeitsleben vermischt und auch andersrum, ab dem Tag wurde Arbeit Entspannung.

Weisz: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Bereichen, für die ich zuständig bin, die Arbeit als einen Feind empfinden. Der Ansatz, sich gewerkschaftlich zu organisieren, ist ja nicht, dass wir sagen: Wir sind gegen die Arbeit. Der Unterschied ist, ob ich Lohnarbeit betreibe. Ich verkaufe meine Arbeitskraft und das möchte ich irgendwo möglichst gewinnbringend machen: Ich möchte möglichst viel Urlaub haben, ich möchte möglichst viel Verfügungsgewalt über meiner Arbeitszeit haben, ich möchte, dass meine Arbeitszeit möglichst gut entlohnt wird. Wenn ich jetzt allerdings selbstständig bin, dann ist das ja eine vollkommen andere Herangehensweise. Dann blicke ich auch nicht spezifisch auf die Arbeitszeit, als etwas, was sich von meinem Privatleben abgrenzt. Diese Überlegung, mehr Zeit für sich selbst zu haben, entspringt zumindest nach meinem Erleben nicht darin, dass Arbeit der Feind ist. Sondern da geht es ja um Möglichkeiten, die ich dann habe, oder nicht. Am Ende ist es ein Vertragsverhältnis, Verträge können beendet werden. Das hat auch stark was mit einer Unternehmenskultur zu tun. Ich kenne auch Betriebe im Dienstleistungsbereich, wo Arbeitskraft gekauft wird, um sie möglichst gut zu nutzen und möglichst wenig dafür zu bezahlen. Wobei ich sagen würde, das ist nicht der Standard.

Ruf: Ich finde es absolut gut, dass wir in Deutschland eine Kultur haben, die Gewerkschaft zulässt. Ich habe bei Georg Fischer in Singen gelernt, ich war damals auch gewerkschaftlich organisiert. Ich möchte natürlich, dass die Leute, die bei uns arbeiten, sich auch wohlfühlen.
Zum Thema Arbeitszeit. Ich habe letztes Jahr ganz viele Leute befragt, wie sie sich Arbeitszeit vorstellen. Und die Essenz aus diesen Gesprächen war, dass die Leute gerne mehr qualifizierte Freizeit hätten, also mehr zusammenhängende, freie Tage. Keiner hat gesagt: Ich will gar nicht arbeiten. Dann habe ich mir in mühsamer Kleinarbeit ein Konzept überlegt, dass genau das in unserem Unternehmen passiert. Wir haben mehrere Workshops gemacht, wo wir dieses Konzept gemeinsam erarbeitet haben und es kam dabei raus: Eine Drei-Tage-Woche. Ich konnte das wirtschaftlich abbilden und man konnte es arbeitszeitlich abbilden. Wir haben auch mit einer Arbeitsrechtlerin aus Singen zusammengearbeitet, dass das wirklich auf sauberem Fundament steht. Vom Prinzip her war das Modell so: Wir teilen unsere Produktion in zwei Schichten auf. Schicht eins arbeitet Montag bis Mittwoch, jeweils zehn Stunden. Schicht zwei: Donnerstag bis Samstag. Dann wird am Sonntag nicht gearbeitet und von Montag bis Mittwoch arbeitet Schicht zwei, dann wieder Schicht eins bis Samstag. Dann beginnt das Ganze wieder von vorn. Man arbeitet immer drei Tage, hat dann praktisch den Rest der Woche frei, inklusive Sonntag. Also im Schnitt 30 Stunden Arbeit pro Woche. Alles immer unter der Maßgabe, dass es freiwillig ist. Es war auch immer so, dass einige Arbeitsplätze bei uns noch in einer Normalschicht mit einem ganz normalen 8-Stunden-Tag wären.
Wir konnten das wirtschaftlich darstellen, weil wir unsere Fixkosten durch die Produktionshalle, die Maschinen und so weiter, nicht mehr durch 40 produktive Stunden in der Woche, sondern durch 60 produktive Stunden in der Woche teilen. Das war so ein wirtschaftlicher Benefit, dass man sagen konnte: Alle können zehn Stunden in der Woche zu Hause bleiben und bekommen es trotzdem bezahlt. Aber ich müsste das Personal verdoppeln. Und jetzt kommt die große Problematik an der Sache: Wir konnten es nicht einführen, weil wir keine Leute gefunden haben. Woran liegt das? Liegt es daran, dass die Geschichte so gut war, dass alle gesagt haben: Da ist ein Haken, das kann nicht wahr sein? Haben wir uns die falschen Medien als Partner gesucht, um das zu propagieren? Oder liegt es daran, dass die Leute das eigentlich gar nicht wirklich wollen? In diesen Workshops, die wir im Unternehmen gemacht haben, habe ich auch Stimmen von einigen unserer Mitarbeiter vernommen, die gesagt haben, ich möchte nicht so viele Tage am Stück daheim sein. Für mich ist Arbeit ein großer Teil meiner Identität. Ist weniger Arbeiten denn wirklich das Ziel? Und ich muss heute mit der Erfahrung, die ich in meinem kleinen Kosmos gemacht habe, sagen: Ich wurde eines Besseren belehrt. Es gibt viel mehr Leute, die jeden Tag arbeiten gehen wollen.

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WOCHENBLATT: Es gibt das Bild von jüngeren Menschen, die eher weniger arbeiten wollen. Wären nach Ihrer Erfahrung die Jüngeren eher bereit gewesen für dieses Drei-Tage-Konzept?

Ruf: Diese Aussagen, die ich treffe, das sind keine repräsentativen Dinge. Wir sprechen hier über ein Unternehmen von 25 Mitarbeitenden. Aber die Aussage von den Leuten, die ich im Vorfeld befragt habe, war immer: Weniger arbeiten, gleiche Bezahlung. Das war die Essenz. Vielleicht auch einfach, weil man das überall hört. In diesem Spektrum von ganz jung bis ganz alt, kann ich nicht sagen, wer eher weniger oder mehr arbeiten will. Aus meiner Erfahrung heraus wollen die Leute nicht weniger arbeiten. Sie wollen, dass man ihre Arbeit schätzt, dass man sie als Person schätzt. Das merke ich und das ist was ganz, ganz Wichtiges, dass man eine schöne Unternehmenskultur hat, dass man ordentlich miteinander umgeht.

Weisz: Grundsätzlich würde ich der Analyse nicht widersprechen. Das ist auch etwas, was ich wahrnehme, wenn ich mit Menschen rede. Das sind Individuen und da gibt es unterschiedlichste Ansätze, was einem jetzt wichtig ist. Und es ist wahrscheinlich einfach auch die Frage, welche Menschen nehme ich jetzt in den Fokus? Zum Beispiel die Menschen, die bei einem Paketdienst arbeiten. Die meisten machen das nicht, weil sie sagen: Das ist mein großer Traum. Sondern das sind Menschen, die brauchen halt irgendeine Erwerbsarbeit.
Ich kenne die Welt der Industriearbeit nur aus der beobachtenden Perspektive. Da nehme ich schon wahr, dass es ganz anders ist, wenn ich meine Arbeit selbst gestalten kann, als den ganzen Tag einfach an einem Fließband zu stehen. Weil, das muss man ja auch sagen: Arbeit ist ja nicht zwangsläufig etwas Gesundes.
Ob das mit der Bewerberlage dann jetzt daran liegt, dass gerade überhaupt niemand so einen Job sucht oder ob - was ich mir schon vorstellen kann - man da drauf guckt und denkt: Nur drei Tage arbeiten, das muss einen Haken haben.

WOCHENBLATT: Sie haben eigene Erfahrungen aus der Arbeit in der Krankenpflege. Kann da eine Vier-Tage-Woche funktionieren?

Weisz: Die Frage ist: Was ist das System, das dahintersteht? Zu sagen: Jeder kommt nur noch vier Tage die Woche und ich dehne die Schichtzeiten aus - das wird schwierig. Zum Beispiel in der Pflege läuft ja keine Maschine, das folgt ja einem Tagesablauf: Man steht morgens auf, es gibt Mahlzeiten, dann finden irgendwelche Untersuchungen statt. Und das erfordert ja auch ein ganz hohes Maß an Empathie, an Konzentration. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Sinn macht in der Pflege zehn Stunden zu arbeiten. Nicht als etwas Grundsätzliches. Außerdem kann man in der Pflege ein Phänomen nachvollziehen, wie man sehr lang von der Arbeitgeberseite her einer tendenziellen Unzufriedenheit begegnet ist: Wenn es dir nicht passt, dann kannst du einfach woanders hingehen. Statistisch gibt es eine massive Abwanderung aus diesem Beruf. Wir hätten in der Pflege heute nicht dieses Problem, wenn wir früher mit Leuten überlegt hätten: Was wäre denn eigentlich gut? Jetzt kenne ich kein Krankenhaus, wo nicht mindestens eine Station geschlossen ist. Wenn ich weiß, dass mich an meinem freien Wochenende jemand anrufen kann, ob ich einspringe, entscheide ich mich nach einer gewissen Zeit dafür, den Beruf zu verlassen. Da hätte man früher ansetzen müssen.
Dass wir Tarifautonomie haben, bei der Gewerkschaften und Arbeitnehmer in Arbeitnehmerverbänden in der Verhandlung zu Lösungen kommen, sehe ich als eine große Stärke der Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort. Da gibt es natürlich auch den Arbeitskampf, weil unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen. Aber trotzdem haben wir ein System, das es erstmal ermöglicht, dass man einen Konsens finden kann. Der funktioniert meiner Ansicht nach auch besser, als man das manchmal so wahrnimmt. Wir stehen jetzt vor den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst und haben nicht die Forderung nach der Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Der Gedanke ist die Entlastung, mit drei zusätzlichen freien Tagen. Heute ist die Tätigkeit auch verdichteter, die Produktivität insgesamt ist gesteigert, die Arbeit viel komprimierter.

Thomas Weisz | Foto: Anja Kurz
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WOCHENBLATT: Ist Arbeitszeit da überhaupt noch das richtige Mittel, um das zu messen?

Weisz: Es ist ein Aspekt davon. In der politischen Diskussion stellen sich zwei Blöcke hin und sagen: Wir müssen jetzt alle wieder mehr arbeiten, oder: Nein, wir müssen jetzt alle weniger arbeiten. Das ist auch ein bisschen Wahlkampf. Aber darin steckt Unverständnis darüber, wie das eigentlich funktioniert. Weil nämlich nicht einfach die Politik festlegt, wie die Arbeitszeit ist, sondern wir das als Tarifpartner im Betrieb konkret selbst regeln können. Und zum anderen, dass es stark darauf ankommt, wie ich diese Zeit nutze. Ich habe als Unternehmer ja auch nichts davon, wenn ich weiß, die Leute hängen jetzt zwölf Stunden am Tag bei mir rum. Sondern die müssen ja in ihrer Arbeitszeit was Sinnvolles tun, wovon ich dann auch was habe. Man muss es sich ganz konkret auch für unterschiedliche Branchen angucken. Ich kann die Kollegin, die in der Ausländerbehörde arbeitet, in ihrer Arbeitsleistung wahrscheinlich überhaupt nicht vergleichen mit dem Mechaniker. Jetzt einfach nur die Arbeitszeit als den einen Parameter zu nehmen und zu sagen, daran kann man jetzt irgendwas erkennen, das reicht dafür absolut nicht aus.

WOCHENBLATT: Ein Punkt, den Sie angesprochen haben, ist das Stichwort Personal. Personal ist begrenzt. Gleichzeitig schwächelt aber die Wirtschaft in Deutschland. Muss da nicht irgendwo jeder sagen: Ich muss jetzt mehr anpacken, weil es gibt nicht genug Personal, um diese Lücken zu schließen?

Ruf: Da sind wir jetzt genau an dem Punkt, wo ich gehofft habe, dass wir noch hinkommen. Das mit dem Arbeitszeitverkürzen und wir machen alle was ganz Tolles miteinander, das ist ja wirklich schön. Das können wir machen, wenn es uns so richtig gut geht. Wenn wir jetzt aber mal Deutschland weltwirtschaftlich anschauen, wo wir vor zehn Jahren waren, wo wir heute stehen und wo wir in zehn Jahren stehen, wenn wir so weitermachen, dann müsste man eigentlich das Gespräch heute ganz anders führen.
Ich war mal in einem Unternehmen in den USA unterwegs. Da habe ich einen der Vorarbeiter gefragt: Warum arbeitest du hier? Dann sagt er, es gibt eigentlich nur einen Benefit, der ganz wichtig für mich ist: Vier Tage bezahlten Urlaub im Jahr.
Und wir unterhalten uns über drei Tage mehr zu den 30, die wir schon haben. Wir haben 200 Arbeitstage im Jahr, drei Tage sind 1,5 Prozent. Das heißt, wir nehmen uns 1,5 Prozent Wirtschaftskraft. Das ist unser großes Problem, wir sind irgendwann weltwirtschaftlich gesehen nicht mehr leistungsfähig. Wir sind nicht mehr vergleichsfähig. Wir nehmen uns selbst unseren Wohlstand weg mit dem, was wir hier machen.
Noch mal ein kleines Beispiel. In den USA ist an der Kasse jemand, der legt die Ware auf das Band. Dann ist jemand in der Mitte, der scannt die Ware ab und ganz am Ende legt jemand die Ware in den Wagen rein. Irgendjemand muss die ja bezahlen. Das wird auf die Produkte aufgeschlagen, die verkauft werden. In Deutschland kenne ich keinen, der bereit wäre, dafür Geld zu bezahlen. Aber was würden diese zwei, die in den USA die Ware auf das Band oder in den Wagen legen, in Deutschland machen? Die würden doch durch jedes Raster fliegen. Wahrscheinlich wären das Leute, die das Sozialsystem auffangen würde. Ich will damit nicht sagen, dass die Leute faul sind, die nichts arbeiten. Aber irgendwann habe ich überlegt, was besser ist. Vielleicht weniger Sozialsystem und mehr Anreize, Jobs zu schaffen, die nicht so viel Geld bekommen. Auch wenn sie einen schlecht bezahlten Job haben, sind sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Ich könnte bei mir im Unternehmen sicher zwei oder drei Leute brauchen, die bei uns aufräumen, wischen, alles sortieren würden. Aber ich kann das wirtschaftlich nicht abbilden, wenn ich denen 14 oder 15 Euro in der Stunde geben muss. Wenn ich vielleicht nur zehn Euro in der Stunde bezahlen müsste, dann ja. Früher hatten wir das bei uns im Unternehmen. Aber heute nicht mehr. Der Mindestlohn hat die wegrationalisiert. Arbeit muss sich lohnen, das verstehe ich auch. Aber heute gibt es bei uns ganz viele Jobs nicht mehr.
Ich will jetzt hier kein wunderschönes Bild von Amerika malen. Ich liebe es, in Deutschland zu leben und ich liebe es, Europäer zu sein. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, was vielleicht Grund zum Nachdenken gibt. Ich weiß, dass Amerika unglaublich starke Probleme hat. Ungezügelter Kapitalismus ist vielleicht nicht immer genau der richtige Weg. Aber am Ende des Tages, was hat uns unseren Wohlstand in unser Land gebracht? Unser Wohlstand basiert auf Demokratie und darauf, dass ich mehr bekommen kann, wenn ich mehr mache. Und das ist Kapitalismus.
Unser Rückgrat, was wir hatten in Deutschland, schwächelt enorm. Man muss sich vielleicht mal wieder Gedanken machen: Müssen wir die Sache einfach anpacken?

WOCHENBLATT: Was sagen Sie denn zu dem Punkt? Müssen wir mehr anpacken?

Weisz: Es ist ja etwas ausdifferenzierter. Wo macht wer da eigentlich was? Es gibt ja nicht einen riesigen Topf Geld und wenn dann die einen was kriegen, kriegen es die anderen nicht. Wenn ich jetzt zu meinen Kita-Beschäftigten gehe und sage: Wir müssen alle mal richtig anpacken, den Wirtschaftsstandort stärken und deswegen verlängern wir deine Arbeitszeit. Sich den ganzen Tag mit einer Gruppe von 20 Kindern und deren Bedürfnissen auseinandersetzen, das ist durchaus anstrengend. Dann überlegen die sich: Moment mal, für das Geld, die Zeit, den Stress… Man trifft die Leute dann plötzlich beim Discounter an der Kasse wieder.
Wenn der Kita-Platz dann aber wegfällt, kann irgendjemand sein Kind da nicht hinbringen. Diese Person ist dann, zumindest temporär, dem Arbeitsmarkt wieder entzogen. Deswegen ist es halt schon angesagt zu überlegen, wie ich da gute Arbeitsbedingungen schaffen kann. Dann wird irgendwo anders wieder Arbeitskraft von Leuten freigesetzt, die dann vielleicht ihre Stunden aufstocken.
Eine Stärke vom Wirtschaftsstandort Deutschland ist - zumindest noch - ein gutes Bildungssystem. Da muss aber auch rein investiert werden. Jetzt. Das heißt auch attraktive Arbeitsbedingungen. Das ist aber keine Aussage darüber, wie sich das zum Beispiel in der Automobilindustrie gestaltet. Das ist nicht einfach nur so eine Klientel-Politik, dass wir als Gewerkschaften etwas fordern, aus einem Altruismus raus.
Wir vertreten lohnabhängig Beschäftigte. Dass wir die Arme hochkrempeln und schaffen wollen, das ist in unserer DNA.

WOCHENBLATT: Wir sind ja jetzt auf ganz unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse gekommen. Was könnte denn für die Zukunft eine Lösung sein, um das unter einen Hut zu kriegen?

Weisz: Wir haben grundsätzlich die Instrumente, zum Beispiel über Tarifverträge, die in Verhandlungen entstehen. Wir kennen auch Situationen, in denen Unternehmen in wirtschaftlich schwierige Situationen kommen und es gibt da ja auch Konzepte, Notlagentarifverträge und so weiter und so fort. Das andere ist natürlich, die Frage: Wo wollen wir als Gesellschaft hin? Das können wir zwei jetzt wahrscheinlich nicht wirklich beantworten. Das ist der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft. Nicht der Staat hockt sich jetzt hin und entscheidet: Die Arbeitszeit geht hoch oder runter. Das ergibt sich aus einem Aushandlungsprozess und den versucht man so sozial wie möglich abzufedern. Deswegen habe ich das Gefühl, das ist gar nicht so schlimm, wie das vielleicht scheint. Wir haben die Möglichkeiten verschiedene Bedürfnisse demokratisch miteinander zu diskutieren. Ich denke es ist eher wichtig, dass wir auf diesem Weg bleiben und dann kriegen wir es hin, eine akzeptable Zukunft zu gestalten, in der sich alle Interessen widerspiegeln können.

Ruf: Was vielleicht wirklich schön wäre, und das ist auch etwas, was ich von meinen Mitarbeitern immer wieder höre: Dass es sich wieder lohnt, wenn man mehr macht. Dass sich vielleicht die Politik auch darum Gedanken machen muss. Mischt sie sich zu stark ein in die ganze Sache? Muss man zu viel Geld hergeben, wenn man wirklich mehr macht? Es muss politischerseits wieder der Gedanke da sein, dass wenn jemand mehr machen möchte, man es auch finanziell zulässt.

Autor:

Anja Kurz aus Engen

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