1964 Jahre nach Christus
Diese Stadt ist mein Zuhause geworden
Eigentlich wollte er gar nicht bleiben. Aber eine Arbeit hatte Vito Giudicepietro schnell gefunden, er hatte schon in Italien als Kraftfahrzeugmechaniker gearbeitet. Er erinnert sich: "Damals war der Singener Bahnhof so etwas, wie die Arbeitsplatzbörse für die ausländischen Arbeiter. Man stellte sich früh am Morgen auf und dann kamen die Fahrzeuge der Baufirmen und holten sich so viele Arbeiter, wie sie gerade brauchten." Das Klima zwischen den Menschen machte es einem temperamentvollen Süditaliener nicht gerade leicht am Anfang. Man blieb noch unter sich. "Ich habe die ersten sechs Jahre fast kein Deutsch geredet, wir lernten nur die Worte, die man brauchte um die Arbeit zu machen." Die 70er Jahre waren die Zeit, wo es am leichtesten war, in der Heimat mit dem neuen Auto zu imponieren. Vito Giudicepietro kam schon bald in der Alu unter. "Ich habe mich integriert." Schnell fand er auch in der Gewerkschaftsbewegung eine Aufgabe, daraus wurde inzwischen ein neuer Beruf für ihn. Aus dem Gewerkschaftler und Betriebsrat wurde ein Vertreter für die Belange der hier lebenden Italiener.
Lange war er Vorsitzender des Italienischen Vereins ACREI, den er damals hier mitbegründete. Er leitet heute die Singener Dependance des Patronat "INCA" und kandidiert für die SPD im Herbst für den Singener Gemeinderat. Vito Giudicepietro sieht sich als Vorstreiter für die Integration der Italiener in Singen. "Der Sport und die Kultur brachte die Menschen aus den verschiedenen Nationen einander näher." "Der Gedanke, zurückzukehren ist schon immer dagewesen. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht mehr vorstellen, für immer wieder da unten zu leben." Der Hegau und Singen sind für ihn eine Heimat geworden. "Er und seine Familie haben inzwischen ein Haus im "Alten Dorf" in Singen gekauft. "Ich fühle mich wohl." Vito Giudicepietro sieht sich als "Singener mit italienischem Pass". Und: "Meine Kinder sind hier geboren, das sind eigentlich keine Italiener mehr, wie ich einer bin." Hat sich das Klima in Deutschland durch die seit so langen Zeiten hier lebenden ausländischen Mitbürger verändert? Auf diese Frage ist Vito Giudicepietro erstmal ungewöhnlich still. "Eine gewisse Kälte ist geblieben", sagt er dann. "Es gibt viele Schritte, dass wir uns besser verstehen und akzeptieren können, aber wir sind noch lange nicht am Ziel."
Info:
Der 17. September 1964 war der entscheidende Tag im noch jungen Leben des Vito Giudicepietro. Als 16jähriger stand er auf dem Singener Bahnhof, er kam aus Monte Scalioso, dort wo der italienische Stiefel seinen Absatz hat und suchte eigentlich seinen Bruder, der schon 1959 in Deutschland eine wirtschaftliche Zukunft suchte und zuerst in Triberg arbeitete, dann aber zu Alusingen wechselte. "Der Besuch dauerte 35 Jahre", sagt Vito Giudicepietro heute darüber. Obwohl alle seine Brüder, die hier gearbeitet haben, längst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind.Gerade die Diskussion um die begrenzte doppelte Staatsbürgerschaft habe das sehr deutlich gezeigt. "Ein Pass ändert nicht die Kultur eines Menschen. Hätte ich einen Deutschen Pass, würde mein Deutsch dadurch nicht besser", schmunzelt er dazu. Vielleicht wird es ja noch etwas mit der "Wärme", die er immer wieder an den Deutschen vermisst. Die Region Singen war schon seit Beginn der Industrialisierung ein Anlaufpunkt für ausländische Mitbürger. Über die Textilbetriebe Mitte letzten Jahrhunderts kamen die ersten großen Wellen von italienischen Arbeiterinnen, für die eigene Häuser gebaut wurden. Der Eisenbahnbau brachte eine zweite Welle, die Balkankrisen eine weitere und so ging es weiter bis in die 60er Jahre, als Singener Unternehmen sogar Anwerbe-Agenten auf den Balkan oder bis nach Portugal losschickten, um Arbeiter für die steigende Produktion zu bekommen. Heute liegt der Ausländeranteil bei rund 15 Prozent. Ein Schmelztiegel wurde Singen aber nie.
Oliver Fiedler
Autor:Redaktion aus Singen |
Kommentare