Migrationslage spitzt sich auf allen Ebenen zu:
»Mit schönen Worten ist uns nicht geholfen«

Johannes Moser, Kreisvorsitzender des Gemeindetags Baden-Württemberg,
Kreisverband Konstanz, fordert mehr Unterstützung von Bund und Land für die Unterbringung von Geflüchteten. | Foto: Ute Mucha
  • Johannes Moser, Kreisvorsitzender des Gemeindetags Baden-Württemberg,
    Kreisverband Konstanz, fordert mehr Unterstützung von Bund und Land für die Unterbringung von Geflüchteten.
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Engen/Landkreis Konstanz. Auf eine Pressemitteilung des Ministeriums der Justiz und für Migration im Nachgang zu einer Videokonferenz von Ministerin Marion Gentges MdL und von Ministerin Nicole Razavi für Landesentwicklung und Wohnen (siehe unten) reagierte der Engener Bürgermeister und Kreisvorsitzende des Gemeindetags Baden-Württemberg, Kreisverband Konstanz, Johannes Moser, mit einem dringenden Appell an die Landes- und Bundestagsabgeordneten:

„Die Konferenz, an der ich teilgenommen habe, hat deutlich aufgezeigt, dass die Landkreise, Städte und Kommunen bei der Unterbringung von Migranten der Landes- und Bundesregierung die Grenzen der Leistungsfähigkeit erreicht haben und sich von den Regierungen im Stich gelassen fühlen. Mit anerkennenden Worten durch die Ministerinnen ist es allein nicht getan. Es wird dadurch keine weitere Unterkunft geschaffen.
Wir brauchen schnelle und unbürokratische Strukturen, um den drohenden Kollaps bei der Wohnraumversorgung verhindern zu können. In diesem Zusammenhang darf ich besonders auf die Äußerungen der Präsidenten des Landkreistages und Gemeindetages, Landrat Joachim Walter und Steffen Jäger, hinwiesen, die die Sachlage auf den Punkt bringen. Der Präsident des Gemeindetags hat zudem zu Recht deutlich darauf hingewiesen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunen durch die zusätzlichen erheblichen Arbeits- und Finanzbelastungen aus der Flüchtlingszuwanderung seit 2015, der Corona-Pandemie, dem Ausbau des Rechts auf Kinderbetreuung, der Erdgasmangellage und vielem mehr an der Belastungsgrenze angekommen sind.

Sie als die VertreterInnen der Region in Bundes- und Landtag möchte ich als Vorsitzender des Gemeindetags des Kreisverbandes Landkreis Konstanz eindringlich bitten, sich der Problemstellung in Ihren Parlamenten dringend anzunehmen und den Landkreisen und Kommunen die erforderliche Unterstützung schnellstmöglich zukommen zu lassen. Das, was derzeit im politische Raum steht, ist absolut nicht ausreichend, um die Unterbringung der Flüchtlinge sicherzustellen.“
Mit freundlichen Grüßen

Johannes Moser
Kreisvorsitzender Gemeindetag Baden-Württemberg
Kreisverband Konstanz

Hier die Pressemitteilung des Ministeriums für Justiz und Migration:
Die Ministerin der Justiz und für Migration Marion Gentges und Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek haben sich am Dienstagabend in einer Videokonferenz mit den Verantwortungsträgern aller Ebenen im Land zu der sich zuspitzenden Migrationslage ausgetauscht. An dem Termin nahmen über 650 Personen teil, darunter Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen Landesverbände, Regierungspräsidien, Landkreise und Kommunen.

Kraftaktauf allen Ebenen
Ministerin Gentges sagte: „Es ist eine große humanitäre Aufgabe, die wir in den zurückliegenden Monaten bewältigt haben und eine herausragende Gemeinschaftsleistung, dass 130.000 Menschen allein in diesem Jahr in Baden-Württemberg Schutz und Zuflucht finden konnten. Dafür gilt wie immer mein größter Dank.
Die aktuelle Situation erfordert aber auch eine klare Einschätzung: Die Lage ist ausgesprochen ernst. Angesichts jüngster Flüchtlingszahlen müssen wir davon ausgehen, dass eine Herkulesaufgabe auf uns zukommt. Sie zu bewältigen, setzt einen Kraftakt auf allen Ebenen voraus. Dabei müssen wir uns auch wieder auf den kurzfristigen Aufbau von Notunterkünften einstellen. In der jetzigen Situation erwarte ich, dass der Bund nicht nur Zusagen macht, sondern auch finanziell und organisatorisch Verantwortung übernimmt.“
In diesem Jahr sind bereits rund 130.000 Menschen nach Baden-Württemberg geflüchtet, davon 115.000 ukrainische Geflüchtete und 15.000 Asylsuchende. Das sind deutlich mehr als im Krisenjahr 2015. Allein bei den Asylsuchenden war es bereits im ersten Halbjahr der höchste Halbjahreszugang seit 2016.
Bei den Zugangszahlen sind derzeit von Woche zu Woche deutliche Zuwächse zu verzeichnen. In Kalenderwoche 27 waren es pro Tag noch 110 ukrainische Geflüchtete in die Erstaufnahmen des Landes und 79 Asylsuchende mit Verbleib in Baden-Württemberg. Bis in die Kalenderwoche 31 sind diese Zahlen bereits auf 170 ukrainische Geflüchtete und 110 Asylsuchende pro Tag gestiegen.

Korrektur der Bundespolitik

Ministerin Gentges: „Die Kommunen wissen um ihre Aufgabe, weitere Aufnahmekapazitäten zu schaffen, sie signalisieren aber ganz deutlich, dass an vielen Stellen Belastungsgrenzen erreicht sind. Die aktuellen Unterbringungskapazitäten sind stark ausgelastet. Die Akquise neuer Unterkünfte wird rein faktisch immer schwieriger. Dabei sind die steigenden Zugangszahlen auch Folge der aktuellen Bundespolitik. Die Ausweitung der Sozialleistungen infolge des Rechtskreiswechsels setzt einen finanziellen Anreiz für Menschen, die bislang in anderen EU-Ländern Schutz gefunden haben, nach Deutschland zu kommen, und erhöht zusätzlich den Druck auf unsere Systeme.“
Dazu auch Präsident des Landkreistages, Joachim Walter: „Ohne den Rechtskreiswechsel und den damit verbundenen höheren Sozialleistungen wären wir als Kommunen nicht jetzt vor die Situation gestellt, Notunterkünfte vorzubereiten und bereitzustellen. Zunehmend kommen Menschen zu uns, die aus der Ukraine stammen und die bereits in anderen europäischen Ländern angelangt waren. Das ist ihnen nicht zu verübeln, viele von uns würden genauso handeln. Der Bund aber muss seine falsche Weichenstellung dringend korrigieren. Die Anziehungskraft der im europäischen Vergleich höchsten Sozialleistungen in Deutschland macht alle Versuche einer gleichmäßigen Verteilung von Geflüchteten in Europa zunichte.“ Auch wenn in der Videokonferenz das gemeinsame Bewusstsein zu spüren war, dass die herausfordernde Gesamtsituation nur im Zusammenspiel aller Aufnahmeebenen bewältigt werden kann, wiesen in einer intensiven Diskussion viele Kommunen auf die Grenzen ihrer Möglichkeiten sowie die Hürden durch hohe Standards und Vorgaben hin.

Dauerkrisenmodus

Präsident des Gemeindetages, Steffen Jäger, sagte: „Die Kommunen sind seit Jahren im Dauerkrisenmodus. Die Belastungsgrenze in den Rathäusern ist erreicht. Ohne Flexibilisierung bei den rechtlichen Rahmensetzungen, ohne einen spürbaren Abbau von Standards und ohne eine konsequente Aufgabenkritik wird es zu einer Überlastung der kommunalen Ebene und der dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen. Es braucht in Zeiten einer multiplen Krise eine gesamtstaatliche Besinnung auf das Wesentliche. Die Städte und Gemeinden sind festen Willens, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen, sie brauchen dafür jedoch den passenden rechtlichen Rahmen und die personellen und finanziellen Ressourcen.“
Die Aufnahmekapazitäten des Landes wurden seit Frühjahr 2022 bereits nahezu verdoppelt. Aktuell werden weitere rund 1.000 Unterbringungsplätze durch Containerhäuser in der Landeserstaufnahmestelle Freiburg (insgesamt 160 Plätze) und die Inbetriebnahme einer Notunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt in Freiburg (bis zu 800 Plätze) geschaffen.

Wohnraum schaffen
Auch die Unterbringungskapazitäten der Stadt- und Landkreise für die vorläufige Unterbringung, die aus Landesmitteln finanziert werden, wurden allein seit dem letzten Jahr in etwa verdoppelt. Darüber hinaus wird ein Landes-Förderprogramm im Umfang von 80 Millionen aufgesetzt, das die Städte und Gemeinden im Land bei der Schaffung von Wohnraum für Geflüchtete unterstützt. Gudrun Heute-Bluhm, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Städtetags-Baden-Württemberg, stellte im Rahmen der Konferenz das Konzept Raumteiler vor. Sie sagte: „Angesichts des seit Jahren steigenden Unterbringungsbedarfs in diesem Bereich ist mit einer zusätzlichen Bereitschaft der Wohnungseigentümer nur zu rechnen, wenn schnell weiterer Wohnraum geschaffen wird. Jetzt müssen die Mittel fließen, um zeitnah regulären Wohnraum schaffen zu können. Die Zivilgesellschaft braucht Perspektiven, dass ihr Einsatz nicht dauerhaft staatliche Vorsorge ersetzen muss.“

Autor:

Redaktion aus Singen

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