Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist der Beklagte 2014
Neue Lehren für das Narrengericht
Stockach (sw). Mit der »Politik des Gehörtwerdens« wollte er mehr Bürgerbeteiligung und Bürgernähe schaffen. Nun kann er nur selbst hoffen, dass seine Verteidigungsrede von wohlwollenden Ohren gehört und erhört wird. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist der Beklagte 2014 vor den Schranken des Stockacher Narrengerichts. Am »Schmotzigen Dunschdig«, also am Donnerstag, 27. Februar, um 17 Uhr muss sich der Politiker von »Bündnis 90/Die Grünen« in der Jahnhalle dem Urteil von Narrenrichter Frank Bosch und seinen Gerichtsnarren stellen.
Die Karten des am 17. Mai 1948 in Spaichingen Geborenen stehen schlecht, denn alle bisher angeklagten baden-württembergischen Landesväter wurden gnadenlos verurteilt: Wie Narrenschreiber Jürgen Koterzyna miteilt, wurden bereits Kurt-Georg Kiesinger, Hans Filbinger, Lothar Späth, Erwin Teufel und Günther Oettinger zur Zahlung von mehreren Eimern Wein österreichischen Maßes mit jeweils 60 Litern Inhalt verknackt. Karten für die Gerichtsverhandlung gibt es ab Freitag, 10. Januar, im Kulturzentrum »Altes Forstamt« in der Salmannsweilerstraße 1 in Stockach unter der Rufnummer 07771/80 23 00 oder tourist-info(at)stockach.de.
So kommen »lehrreiche« Zeiten auf das Stockacher Narrengericht zu: Winfried Kretschmann, Lehrer von Beruf, war Mitbegründer der baden-württembergischen »Grünen«, zog 1980 als Abgeordneter in den Landtag ein und arbeitete auch im ersten grünen Umweltministerium in Hessen unter Joschka Fischer mit. Er war ab 2002 Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Stuttgarter Landesparlament und wurde am 12. Mai 2011 zum ersten »grünen« Ministerpräsidenten eines Bundeslandes in Deutschland gewählt. Als erster Vertreter seiner Partei wurde er am 1. November 2012 Präsident des Bundesrates und am 1. Oktober 2013 Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Auch Niederlagen gehören zu seinem politischen Werdegang: 1992 verlor er sein Landtagsmandat, als der schillernde »Remstal-Rebell« Helmut Palmer, der Vater des heutigen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, in Kretschmanns Wahlkreis kandidierte. Es folgten vier »Jahre fast politikfreien Lehrerdaseins«.
Der Vater dreier Kinder und praktizierende Katholik mit Wohnsitz im württembergischen Sigmaringen wirft nun seine schwäbisch-behäbige Gemütsruhe der badisch-forschen Dynamik des Narrengerichts entgegen. Stoff für sinnvolle, inhaltsschwere Anklagepunkte dürfte der Landesvater ausreichend liefern: Winfried Kretschmann war während seines Studiums der Naturwissenschaften an der Universität Hohenheim Mitglied linksradikaler K-Gruppen – ein politisches Engagement, das er auf seiner Homepage als »fundamentalen politischen Irrtum« bezeichnet.
Dennoch hatten ihn diese Aktivitäten verdächtig gemacht, und er drohte, im Zuge des »Radikalenerlasses« keine Anstellung im Staatsdienst zu bekommen. Daher unterrichtete er zunächst an einer Kosmetikschule »Schülerinnen jenseits aller Ideologien« in Chemie und Biologie. Später wurde er aber doch verbeamtet und war als Lehrer in Stuttgart, Esslingen, Mengen und Bad Schussenried tätig. Ein Mann voller Widersprüche, wie auch Narrenschreiber Jürgen Koterzyna aufführt: Ministrant und Wehrdienstleistender, Asta-Sprecher und Mitglied einer farbentragenden Studentenverbindung, Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschlands und Grüner, Mitglied im Schützenverein und bei Amnesty International, bei »Donum Vitae« und der Narrenzunft »Gole« in Riedlingen.
Und auch das politische Leben unter grün-roter Landesherrschaft bietet genügend Angriffspunkte: Die Bildungspolitik sorgt für Verwirrung und Irritationen, die finanzielle Situation des Landes gilt als verbesserungsbedürftig, Nationalparkideen, Windkraftvisionen und der Dauerbrenner »Stuttgart 21« sind emotional geführte Streitthemen. Ein Beklagter, an dem es viel zu beklagen gibt. Es wird sich weisen, wer wen das Fürchten lehrt – der Lehrer die Lehrmeister des Narrengerichts oder umgekehrt.
- Simone Weiß
Autor:Redaktion aus Singen |
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