WOCHENBLATT-Interview mit Rektor Michael Vollmer zum »G9«
»Den Kindern wird die Jugend gestohlen«
Raum Stockach. Es kommen harte Tage: Am Mittwoch, 18. April, beginnen die schriftlichen Abiturprüfungen mit dem Fach Deutsch. Das Stockacher »Nellenburg-Gymnasium« nimmt dabei eine Sonderstellung ein, denn es ist eine der Modellschulen in Baden-Württemberg, an denen Schüler das neunjährige Gymnasium »G9« besuchen. An den anderen Schulen im Land Baden-Württemberg wird der achtjährige Weg (»G8«) zum Abitur verfolgt. Ein Gespräch dazu mit Michael Vollmer, dem scheidenden Rektor des Stockacher Gymnasiums.
WOCHENBLATT: Das »Nellenburg-Gymnasium« ist »G9«-Modellschule. Würden Sie diesen Weg erneut gehen?
Michael Vollmer: Zweifellos. Alle Bundesländer, die sich für »G8« entschieden hatten, sind inzwischen wieder zum neujährigen Gymnasium zurückgekehrt. Sogar Bayern. Nur in Baden-Württemberg wird am »G8« festgehalten. Dabei bleibt Schülern keine Zeit, schulische Angebote außerhalb des Unterrichts oder auch außerschulische Angebote wahrzunehmen. Es ist nicht so, dass die Durchfallquote beim »G8« höher wäre - die Schüler schaffen das schon. Aber die Belastung und der Aufwand sind zu hoch, und die Freizeit kommt zu kurz. Vor allem in der Pubertät, wenn die jungen Menschen viel Zeit für sich brauchen, um überhaupt mit den Veränderungen zurecht zu kommen. Den Schülern wird ihre Kindheit und Jugend gestohlen. Nach dem Abitur sind die »G8«-Absolventen zudem aufgrund ihres jugendlichen Alters noch desorientiert und wissen nicht, wie es beruflich weitergehen soll. Die Schüler mit »G9« sind dagegen nach der Reifeprüfung viel besser aufgestellt und wissen, was sie wollen. Und »G8«-Absolventen haben es schwer, weil unter 18-Jährige noch keine rechtlich verbindlichen Verträge, wie etwa einen Mietvertrag am Studienort, abschließen dürfen. Das verführt oft dazu, am Heimatort und zu Hause zu bleiben und verzögert ein Abnabeln und ein Selbstständigwerden.
WOCHENBLATT: Beim »G8« wird die zweite Fremdsprache ab Klasse sechs unterrichtet. Ist das sinnvoll?
Michael Vollmer: Nein. Es hat sich bewährt, dass die Grundlagen für die erste Fremdsprache in den Klassen fünf und sechs vermittelt werden, und nach dem Erlernen dieser Grundlagen die zweite Fremdsprache in der siebten Klasse folgt. Viele Schüler haben extreme Schwierigkeiten, wenn die zweite Fremdsprache bereits ab Klasse sechs gelehrt wird.
WOCHENBLATT: Sind denn auch die Eltern vom »G9«-Kurs in Stockach überzeugt?
Michael Vollmer: Auf jeden Fall. Das spiegelt sich etwa in den Anmeldezahlen wieder, denn zehn Prozent der Anmeldungen kommen nicht aus unserem eigentlichen Einzugsbereich. Zum Ende eines jeden Schuljahres evaluieren wir zudem die Elternzufriedenheit der ersten »G9«-Jahrgänge und das Ergebnis signalisiert eine große Zustimmung mit dem »G9«.
WOCHENBLATT: 2004 startete in Baden-Württemberg das »G8«, das »Nellenburg-Gymnasium« ist zum Schuljahr 2012/‘13 als Modellschule zum »G9« zurückgekehrt. Beide Formen liefen und laufen also eine Zeitlang parallel. War das ein großer Verwaltungsaufwand?
Michael Vollmer: Nein. Denn die Neuanmeldungen erfolgten ja alle für das »G9«. So hatten wir in den einzelnen Jahrgangsstufen keine Vermischung und der organisatorische Aufwand war nicht größer.
WOCHENBLATT: Sie werden im November 65 Jahre alt und gehen daher zum Schuljahresende in den Ruhestand. Wie wird die Nachfolge geregelt?
Michael Vollmer: Die Stelle war ausgeschrieben, und ich gehe davon aus, dass dem Regierungspräsidium Freiburg die Bewerbungen von Interessenten vorliegen. Im April startet das Verfahren der Bewerberauswahl, wobei mit Claudia Weber-Bastong eine Vertreterin unserer Schulkonferenz und mit Bürgermeister Rainer Stolz ein Vertreter des Schulträgers, also der Stadt, in Freiburg mit dabei sein wird.
WOCHENBLATT: Noch eine andere Frage zum Stockacher »Nellenburg-Gymnasium«. Sie betreiben ja auch einen Schüleraustausch mit Australien. Wird dieser doch recht weit entfernte und in der Umsetzung auch sehr kostspielige Kontakt zur Schule in Bendigo im australischen Bundesstaat Victoria etwa 150 Kilometer von Melbourne aufrecht erhalten?
Michael Vollmer: Der Schüleraustausch hat sich etabliert und wird auch nach meinem Ausscheiden fortgeführt. Es gibt zwei Standpunkte dazu: Die Entfernung, die Kosten allein für den Flug und die weite Anreise können kritisiert werden. Doch bei einer anderen Sichtweise wird es als positiv angesehen, dass Australien als eigener Kontinent soweit entfernt ist und somit der Austausch mit einer ganz anderen Kultur stattfindet. Auch lernen die Schüler durch die große Entfernung bei den Besuchen Selbstständigkeit und Eigenständigkeit und sind gezwungen, die Fremdsprache zu sprechen und zu üben. Das Projekt kommt schon aus finanzieller Sicht nicht für jeden in Frage, doch die acht bis zehn Leute, die das Angebot nutzen, sind vollauf begeistert.
WOCHENBLATT: Noch eine persönliche Frage. Wird es ein seltsames Gefühl sein, wenn die Sommerferien 2018 enden und Sie nicht an die Schule zurückkehren werden?
Michael Vollmer: Nein. Schon aus dem Grund nicht, weil ich zu Schuljahresbeginn am Montag, 10. September, eine 15-tägige Marokkoreise antreten werde. Aber ich habe mich auf den Ruhestand gut vorbereitet und werde sicher nicht in ein tiefes Loch fallen. Es gibt noch einiges, was ich vorhabe. Aber eines weiß ich jetzt schon: Die Schüler werden mir fehlen. Denn ich war mein ganzes Berufsleben lang sehr gerne Lehrer.
- Simone Weiß
Autor:Redaktion aus Singen |
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