Protest gegen das Ende der »Sprach-Kitas«
»Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist«
Kreis Konstanz. Die Zahlen sprechen Bände: Im Radolfzeller Bildungsbericht von 2018 wird festgehalten, dass rund 40 Prozent der zur Einschulung anstehenden Kinder die deutsche Sprache nicht altersgemäß beherrschten. In Singen sieht es, auch mit verursacht durch einen hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund (65 Prozent), ähnlich kritisch aus. Die damalige Bundesbildungsministerin Karliczek erklärte Anfang 2020, also auch noch vor den Corona-Lockdowns, dass rund 20 Prozent der 15-jährigen Jugendlichen nicht sinnverstehend lesen könnten. Das Problem ist freilich auch nicht neu, denn schon seit zehn Jahren wird in der frühkindlichen Bildung besonders in Städten auf das Bundesprogramm der »Sprach-Kitas« gesetzt. Doch für alle überraschend soll es nun auf Jahresende auslaufen, ohne dass bislang geklärt wie es damit weitergeht.
Protest gegen dieses einfache Aus kommt auch viel aus dem Landkreis. Die Stadt Singen hat aus gutem Grund das Modell der Sprach-Kitas in vielen Kinderbetreuungseinrichtungen in der Anwendung, aus der Erkenntnis heraus, dass inzwischen viele kleine Kinder im Zeitalter von Smartphones, Tablets und so vieler anderer medialer Ablenkung wenig Übung nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim Hörverstehen haben. Das Bundesprogramm der »Sprach-Kitas« hatte den guten Ansatz, dass man früh anfangen muss mit reparieren, weil es da auch am erfolgsversprechendsten ist. Denn wer schon von Anfang an nicht »mitkommt« in der Sprachentwicklung, der wird nicht nur mehr und mehr »abgehängt«, die Defizite verfestigen sich auch mit den Jahren und damit wird es immer schwieriger, da etwas wieder gutmachen zu können.
»Viele Kinder sind inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes ›sprachlos‹, weil sie nicht mehr gefördert werden«, macht Michela Gesell von Verrechnungstelle der katholischen Kirchengemeinde Radolfzell deutlich, über die zwölf solcher Sprach-Kitas in der Region, von Radolfzell über Stockach und Allensbach bis Mühlhausen und Gailingen, über eine Fachkraft betreut werden, die das Thema Sprache vermitteln und deren Zukunft nun gerade offen ist. »Wenn ich durch die Straßen laufe, dann sehe ich lauter Mütter, die mit ihrem Handy reden statt mit ihren Kindern«, kritisiert sie auch wenn die weiß, dass der Grund noch tiefer liegt, für die Sprachlosigkeit, auch weil sich Eltern oft überfordert zeigen, hier Vorbild im Sprechen und Zuhören zu sein. Zwölf Sprach-Kitas sind hier über die Radolfzeller Kirchengemeinde seit 2017 an dem Programm beteiligt und teilen sich eine Fachkraft im Bereich der sprachlichen Bildung, die bislang vom Staat bezuschusst wird, dazu werden Tandems aus der Fachberatung und der Kita-Leitung qualifiziert und bezuschusst. In Singen sind es laut der Standortkarte des Bundesministeriums 20 Kitas, die von dem Programm profitieren konnten. Und damit soll nun auf Jahresende in dieser Form Schluss sein.
Sprach-Kitas brauchen politischen Rückenwind
Gegen das Ende der Sprach-Kitas auf Bundesebende gibt es inwischen aus dem ganzen Land Proteste von den Betreibern der Kinderbetreuung. Denn das Ende der Förderung wäre auch meist das Ende der Förderung der Fachkräfte wie auch der Kinder in diesem Umfang. Die Singener Bürgermeisterin Ute Seifried und ihre Radolfzeller Kollegin Monika Laule sammeln derzeit die Positionen der betoffenen Gemeinden hier im Landkreis zusammen, um sich an die Abgeordneten von Bund und Land mit der Forderung zu wenden, hier entweder das aus ihrer Sicht sehr erfolgreiche Modell der Sprach-Kitas fortzusetzen oder eine adäquates Nachfolgemodell zu installieren.
»Nachdem das Bundesprogramm auf Jahresende befristet ist, sehen die Träger der Verbundeinrichtungen aktuell keine Möglichkeit, die zusätzlichen Sprachbildungskräfte und auch die Fachberatung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Konsequenz wäre, diese zusätzlichen Fachkräfte zu entlassen oder beim derzeitigen Fachkräftemangel in die Einrichtungen zu integrieren«, macht Michaele Gesell in ihrem Schreiben, das von Vertetern des AWO Kreisverbandes, der der evangelischen Kirchengemeinde Konstanz den Vetreteren der katholischen Kirchengemeinden Singen und Radolfzell mit gezeichnet wurde.
Der Deutsche Städtetag ist hier mit im Boot und hat am 15. August eine Kampagne gestartet und unterstützt eine Petition, die unter www.sprachkitas-retten.de bereits viele Mitstreiter gefunden hat. »Die Ankündigung des Bundes traf bundesweit auf Unverständnis«, so das Statement des Städtetags. Die Haltung des Ministeriums, Sprachförderangebote jeglicher Art aus Mitteln des sogenannten »Gute-Kita-Gesetzes« zu unterstützen, bedürfe noch Verhandlungen der Länder mit dem Bund, die wohl länger gehen dürften.
Abgeordnete beziehen Position
Genau dazu die SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lina Seitzl: »Ich persönlich habe das Bundesprogramm der Sprach-Kitas als sehr unterstützenswert wahrgenommen und verstehe den Unmut über das Auslaufen. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass das Bundeskabinett am 24. August den Gesetzesentwurf zu einem neuen Kita-Qualitätsgesetz beschlossen hat, welches zu Beginn des neuen Jahres in Kraft treten soll. Ziel ist es, auf ganzheitlicher Linie bundesweit einheitliche Standards zur Qualitätssteigerung in den Kinderbetreuungseinrichtungen zu setzen. Bei diesem Gesetz handelt es sich um eine Weiterentwicklung und Verbesserung des ›Gute-Kita-Gesetzes‹. Als SPD wissen wir um die Wichtigkeit der Chancengerechtigkeit, die bereits mit dem Kita-Besuch beginnt. Aus diesem Grund stellen wir auf Bundesebene in den nächsten zwei Jahren insgesamt vier Milliarden Euro bereit, um mit dem Kita-Qualitätsgesetz genau in diesem Bereich gezielter fördern zu können.«
Das wäre ja ein Signal aus Berlin, auch wenn der Städtetag es lieber so lassen wollte, wie es im Augenblick eigentlich funktioniert.
CDU-Bundestagsabgeordenter Andreas Jung sieht es kritisch: »In ihrem Koalitionsvertrag hatte die Ampel noch versichert, dieses Programm weiterzuentwickeln und zu verstetigen. Da etwa 40 Prozent der Kita-Kinder in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, war dieses Vorhaben gut und richtig. Nun aber wird die Einstellung des Programms mit Blick auf Integration und Sprachförderung weitreichende Konsequenzen haben – auch bei uns. Der Beschluss des Bundeskabinetts, die Mittel nach mehr als zehn Jahren ausgerechnet in einer Zeit zu streichen, in der zahlreiche Kinder aus der Ukraine betreut werden müssen, ist aus meiner Sicht doppelt unverständlich, deshalb haben wir als Union uns auch klar dagegen gewandt. Zu einem späteren Zeitpunkt aufzuholen, was hier in jungen Jahren versäumt wird, ist für die Betroffenen ungleich mühsamer und für die Staatskasse deutlich teurer. Aus meiner Sicht muss für das Programm in den weiteren Beratungen eine Lösung zur Fortführung gefunden werden, anstelle von Seiten des Bundes einseitig die Mittel zu streichen.«
Und auch die Landespolitiker, die auf die Anfrage des Wochenblatts reagierten, zeigen eine klare Haltung für die Fortsetzung des Programms: MdL Dorothea Wehinger (Grüne): »Die Einstellung des Bundesprogramms ›Sprach-Kitas‹ hat uns überrascht. Mir ist es auch persönlich ein großes Anliegen, dass eine fundierte Sprachförderung in Kitas – gerade in Zeiten von Corona und Ukrainekrieg – weiterhin aufrechterhalten und finanziert werden kann. Der Bund hat bereits weitere Milliarden im Rahmen des neuen ›Kita-Qualitätsgesetzes‹ zugesagt, die auch für die sprachliche Bildung verwendet werden müssen. Inwiefern die bisherigen Sprachfördermaßnahmen damit auf Landesebene aufrechterhalten werden können, wird zeitnah zu klären sein. Vor allem die Sprachfachkräfte, die über das Programm Sprach-Kitas vor Ort in vielen Kitas eingesetzt werden, brauchen schnellstmöglich ein Zeichen, wie es mit ihnen weitergeht. Das Land wird die Kitas nicht hängen lassen.«
MdL Nese Erikli (Grüne): »Wir haben uns für eine Weiterführung des Programms beim Bund eingesetzt. Der Bund hat daraufhin reagiert und – ganz aktuell – Sprachfördermittel für die Kitas zugesichert, die mindestens auf der Höhe des bisherigen Programms liegen. Wir werden daher als nächsten Schritt zeitnah zu klären haben, ob und wie damit die bisherigen Sprachfördermaßnahmen fortgesetzt werden können.«
»Die Finanzierung ausreichender und qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung ist eine Kernaufgabe des Landes«, sagt der Landtagsabgeordnete Hans-Peter Storz (SPD). »Leider verweigert die grün-schwarze Landesregierung hier die Arbeit.« Aktuelles Beispiel ist für ihn diese Diskussion über das absehbare Ende des Bundes-Sonderprogramms »Sprach-Kitas«.
»Vier Monate vor dem planmäßigen Ende eines Bundesprogramms ist es an der Zeit, dass die Landesregierung in die Gänge kommt und mit dem Bund und den Kommunen Verhandlungen über die dauerhafte Sicherung der Sprach-Kitas verhandelt.
Die SPD im Landtag fordert ein Sofort-Programm des Landes, um eine lückenlose Fortsetzung der wichtigen Arbeit über den 1. Januar 2023 hinaus sicherzustellen. Dazu bringt die SPD-Fraktion einen Antrag ein, den ich unterstütze«, so Storz weiter.
Die Kita-Betreiber warten nun freilich ganz dringend auf ein klares Signal – wie die Fachkräfte zur Sprachförderung genauso, die gerne ihre Arbeit mit den Kindern so weitermachen würden. Die Sprachförderung gibt es natürlich auch nicht nur in den »Sprach-Kitas«, das Land hat für alle Kinderbetreuungseinrichtungen selbst das Programm »Kolibri« aufgelegt, dass allerdings niederschwelliger ist. Wo es die Sprach-Kitas gibt, ist es wirklich Not zur Förderung.
Autor:Oliver Fiedler aus Gottmadingen |
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