Interview mit dem Singener inSi-Chef:
Herr Grunewald, wie geht die Integration von Geflüchteten aus Ihrer Sicht gut?

Bernhard Grunewald (70) ist seit rund 50 Jahren ehrenamtlich aktiv, seit acht Jahren ist er in Singen und er ist erster Vorsitzender des Vereins inSi e.V. in Singen. inSi kümmert sich um Integration. Und die, sagt Grunewald – und kann das sehr gut begründen –, ist keine Einbahnstraße. Bei Opel im Betriebsrat in Rüsselsheim war er unter anderem Schwerbehindertenvertrauensmann. Wir wollten den Mann, der auch freier redaktioneller Mitarbeiter des Wochenblattes ist, alles fragen, was uns zum Thema Flüchtlinge gerade wichtig ist und was uns an Fragen unserer Leserinnen und Leser so begegnet ist in den letzten Jahren. Ein mutiges und etwas tieferes Gespräch über ein Thema, das uns in den nächsten Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen vieles abfordern wird, aber auch Chancen bietet, wenn es um den Fachkräftemangel geht und vielleicht auch um kulturelle Bereicherung. inSi startete 2018 mit 40 Gründungsmitgliedern und hat mittlerweile 245 Mitglieder, die arbeiten, denken und sprechen, miteinander und mit anderen.

Wochenblatt: Sie sind seit acht Jahren in Singen. Und haben damit die Flüchtlingswelle 2015 mitbekommen. Jetzt ist die nächste Flüchtlingswelle da …
Bernhard Grunewald: In der Hochzeit der ersten Flüchtlingswelle hatten wir im Landkreis 32 Gemeinschafts- und Notunterkünfte und davon zeitweilig alleine elf in Singen. Zwischendurch wurde die Zahl der Camps heruntergefahren auf 12, jetzt haben wir wieder 16 Gemeinschaftsunterkünfte im Kreis, darunter vorläufige Notunterkünfte.

Bernhard Grunewald: Singen trägt jetzt wieder die Hauptlast bei der Aufnahme der Menschen aus der Ukraine. Singen hat schon 1.300 Menschen aus vielen Ländern als Geflüchtete aufgenommen und integriert. Jetzt kommen zu den 380 schon gemeldeten ukrainischen Menschen absehbar noch 180 dazu. Dann sind wir bei 1.800 bis 1.900 Menschen. Damit hat Singen seine gesetzlich (vorgeschriebene) verankerte Quote hundertfach überschritten. Singen ist mit weitem Abstand im Landkreis die Stadt, die die meisten Lasten und Bürden trägt. Andere Gemeinden sind mittlerweile insbesondere durch weitere Kriegsflüchtlinge auch im positiven Bereich, aber wir haben eine Fülle von Gemeinden im Landkreis, die nicht einmal ihre Sollzahlen erreichen (im Kreis). Das war die Kunst der Ära von Frank Hämmerle, dies nicht demokratisch und proportional aufzuteilen. Und jetzt ist es der Job von Landrat Zeno Danner, zu schauen, ob wir hier etwas Ausgleich schaffen können – ich sehe das als große Gemeinschaftsaufgabe aller Verantwortlichen, wobei sie auch auf uns Ehrenamtliche zählen können.

Wochenblatt: Jetzt ist Singen ja auch historisch bedingt international, die Stadt ist mit der Industrialisierung schnell gewachsen und hat zu allen Zeiten Menschen aus anderen Ländern als Arbeitskräfte gebraucht und eingeladen. In der Stadt ist Erfahrung da, wie unterschiedliche Kulturen zusammenleben können…
Bernhard Grunewald: Singen hat da eine sehr lange Tradition. Schon die Eisenbahnarbeiter, die hier vor 1863 die Strecken gelegt haben, waren zum Teil aus Italien, weil sie Erfahrung hatten, wie die Strecken durch Gebirge gelegt werden. Die Zuwanderung durch die nachgängige Ansiedlung der Industriebetriebe hat nie aufgehört. Singen hat sich früh daran gewöhnt und gewöhnen müssen, dass die Arbeiterschaft vor Ort und im Hegau nie ge­reicht hat, um die Fabriken zu füllen. Soweit ich das nachlesen konnte, war Singen ganz schnell bei der „christlichen Nächstenliebe der Tat“, um Heinz Rheinberger (früherer IG Metall-Chef) zu zitieren. Das heißt, Leute haben sich um neue Zuwanderung und Zuwanderer gekümmert. Die ersten Zuwanderer wurden von den Firmen, von den Kirchen, von Vereinen begleitet. Und dank Heinz Rheinberger und Friedhelm Möhrle (früherer Oberbürgermeister) konnten sie sich auch hier früh am Stadtgeschehen beteiligen. Das versucht inSi, das versuche ich auch: Menschen teilhaben lassen. Wir müssen die Menschen als Menschen sehen und nicht nur als Passbesitzer.

Wochenblatt: Was nehmen Sie in der Gesellschaft für Unterschiede wahr zwischen der ers­ten Flüchtlingswelle 2015 und der Situation jetzt? Wir hören oft, dass es in den Städten und Orten häufig einen Unterton gibt, dass man zum Beispiel lieber Ukrainer als Syrer als Flüchtlinge aufnehmen würde…
Bernhard Grunewald: 2015 war der Krieg in Syrien noch sehr präsent, den Assad 2011 gegen sein Volk begonnen hatte, und die Situation in Afghanistan war Tagesthema. 2015 hatten wir in Singen 400 Helferinnen und Helfer. Diese Zahl schrumpfte in den Folgejahren. Warum? Weil gemerkt wurde, dass sich die politische Stimmung zunehmend in Richtung Begrenzung von Flücht-lingszuwanderung wandte. Diese Stimmung, den Fremden vor allem als Belastung zu sehen, sie hat um sich gegriffen. Ende 2017 mussten wir überlegen, was wir tun, weil wir immer weniger Helferinnen und Helfer hatten. Damals wurde die Idee geboren, dass wir unser Wissen, was wir gelernt haben in den drei Jahren zuvor, auch den Menschen zur Verfügung stellen, die hier schon länger wohnen. Menschen, bei denen niemand vor 60 Jahren am Bahnhof mit einem Teddybär oder einem Blumenstrauß stand.

Gastarbeiter ja – aber Menschen?

Die erste Generation von Gast-arbeitern wurde als Arbeits­kräf­te willkommen geheißen, aber wie Max Frisch gesagt hat, nicht als Menschen. Und diese Narben haben wir im Dialog mit den Zuwanderern gespürt, dass Vorbehalte auch bei den Zugewanderten gegenüber den Flücht­lingen da waren. Denn das eigene Erleben war bitter. Diese Erinnerung haben wir nochmals wachgerufen. Wir haben aber auch gemerkt, wenn man den Menschen in den Mittelpunkt stellt, statt die Natio­na­lität oder den Pass, dann gibt es auch die Bereitschaft, sich mitnehmen zu lassen.

Wochenblatt: Wie muss man sich dieses Mitnehmen vorstellen, vor allem, wenn man weiß, dass die Menschen da früher als Zahnräder der aufstrebenden Industriegesellschaft gesehen wurden, aber eben nicht oder ganz wenig als Menschen? Man kann ja froh sein, dass sich da was geändert hat, aber wenn ich selbst schlecht behandelt wurde, fällt es mir ja schwer zu akzeptieren, dass es andere jetzt besser haben sollen…

Erfahrungen aus Rüsselsheim

Bernhard Grunewald: Indem man mit den geflüchteten Menschen aus vielerlei Ländern spricht, von Angesicht zu Angesicht. Ihre Geschichte hört. Und das Gleiche mit den Menschen macht, die hier zugewandert sind vor Jahrzehnten. Ihre Geschichte hören. Zuhören. Ihre Geschichte würdigen.
Ich als Kind hatte das auch schon erlebt. 1962. Wir waren arm, unsere Eltern geschieden. Unsere Wohnung haben wir geteilt mit einer griechischen Familie. Ein Jahr später kam das erste griechische Kind in unsere Klasse. Da gibt es Freundschaften, die sind jetzt 60 Jahre alt.
Ich habe in meinem Arbeits­leben tausende von Menschen kennengelernt, die aus fernen Ländern kamen. Wir hatten in Rüsselsheim bei Opel 6.000 Menschen aus der Türkei, 2.000 aus Kurdistan, 3.000 aus Marokko. Das klappt gut, wenn man mit Kollegen täglich zusammenarbeitet und auch die Demokratie eines Betriebes teilt: Sie durften Gewerkschaftsmitglieder werden, Vertrauensleute wählen, selbst kandidieren und gewählt werden, auch zum Betriebsrat.
Also: Demokratie in der Firma, aber nicht vor dem Werksportal. Draußen hatten diese Menschen kein Stimmrecht. Wir haben damals 1983 einen Ausländerbeirat in Rüsselsheim aufgebaut, um den Menschen eine Stimme zu geben. Daran erinnere ich mich lebendig.
Wichtig ist, Orte der Begegnung zu schaffen. inSi ist solch ein Ort.

Nicht über, mit den Geflüchteten reden

Hier in Singen die Erinnerung daran nochmals wachzurufen, das war wertvoll. Wenn du als Zugewanderter jetzt die Menschen siehst, die hierher kommen, in den Unterkünften leben, und du siehst, spürst deinen eigenen Schmerz, den du erlebt hast – kannst du dann selbst aktiv sein?
Im Verein inSi können die Menschen das jetzt: Nicht über die Geflüchteten reden, mit ihnen reden. Mit den anderen Ver­ei­nen reden, nicht über sie. 40 migrantische Vereine gibt es in Singen, 15 sind mittlerweile als eigenes Netzwerk „WIR in Singen“ organisiert, in Kooperation mit inSi. Im Verein selbst sind mittlerweile alleine 18 Mitglieder aus Afghanistan. Und der Verein ist demokratisch organisiert. Wenn wir Mitgliederversammlung haben, sitzt der Mann aus Somalia mit dem gleichen Stimmrecht da wie die Bürgermeisterin oder der Schuldirektor. Das ist auch eine Übung in Demokratie.

Wochenblatt: Bei Opel haben die Menschen einen Beitrag leisten dürfen, können. Sie haben gearbeitet. Die Menschen haben etwas getan, was den anderen in irgendeiner Weise dient. Das ist ja vielen Flüchtlingen versagt. Ein Thema, über das öffentlich leider sehr wenig geredet wird. Hinter den Kulissen wird sehr viel darüber geredet. Wie kriegen Sie dieses Thema mit und wie kann man damit umgehen?

Brückenseminare helfen

Bernhard Grunewald: Gerade weil ich 42 Jahre in der Autoindustrie gearbeitet habe, habe ich auch bei inSi von Anfang an meinen Schwerpunkt gesehen bei den Themen Arbeit und Ausbildung. Ich gehöre mit zu den Gründungsmitgliedern und bin der Namensgeber für die Singener Allianz, die sich die Aufgabe gestellt hat, dass Menschen, die hierherkommen, in Arbeit und Ausbildung kommen. Diese Bemühungen wurden dann fortgesetzt im Netzwerk Arbeit des Land­rats­am­tes, in dem ich seit fünf Jahren heute die Ehren­amt­li­chen vertrete und in deren Sprecherrat mitwirke. Wir begleiten Menschen zu Arbeitgebern, zu Ämtern und Behörden sowieso, wir organisieren auch Praktika, wir sind für die Arbeitgeber ansprechbar, auch wenn es Konflikte gibt oder Ungereimtheiten. Unternehmen haben am Anfang oft Flüchtlingen Praktikumsplätze gegeben, weil wir „Kreditanstalten“ waren. Mit unserer Person. Das war hilf­reich, um erste Spannungen abzubauen. Wir haben vermittelt, Spielregeln erarbeitet.
Und wenn ich an die 196 Männer in der Kreissporthalle 2015 denke: Ich kenne unglaublich viele, die seinerzeit keine Ahnung hatten, wie das deutsche System funktioniert, die keine Ahnung hatten, dass es so etwas wie Ausbildung oder bezahlte Lohnarbeit gibt, die aus ganz anderen sozialen Wirklichkeiten kamen, die sich heute sehr gut eingereiht haben.
Heute geht es um die syste­mi­sche Herangehensweise. Ich bin sehr dankbar, dass sich auch Ämter, Behörden und Bildungsträger jetzt neu diesem Kundenkreis nähern, indem sie zum Beispiel Brückenseminare in Richtung Pflege oder Pädagogik anbieten. Das kann inSi bewerben und unterstützen. Viele Menschen, nun auch aus der Ukraine, sind schon in Brückenseminaren.
Denn wo sollen denn um Himmelswillen die Helfer und Fachkräfte herkommen, die wir brauchen in der Erziehung, der Pflege, der Pädagogik, im Handwerk?

Wochenblatt: Flüchtlinge sind ja Menschen, die, wie wir auch, ihre Geschichte haben, ihre Lebensgeschichte in einer Kultur, die im Zweifel weit weg von unserer ist, eventuell traumatisiert sind. Menschen mitnehmen heißt zwangsläufig auch den Menschen anzunehmen mit seiner Geschichte und mit seiner Herkunft. Was würden Sie den Menschen gerne sagen, was dazu wichtig ist?
Bernhard Grunewald: Nicht über die Menschen reden, mit den Menschen reden. Die Begegnung suchen, der Begegnung nicht ausweichen.

Wochenblatt: Angenommen, ich sitze am Stammtisch. Ich verstehe nicht, warum schon wieder so viele kommen. Ich bin kritisch, hadere mit der Situation. Ich verstehe nicht, warum die Geflüchteten nicht in irgendwelchen anderen Ländern in Auffanglagern sind. Das sind die Themen, die es ja gibt. Und jetzt fühle ich mich abgeholt und denke: Ja, das ergibt Sinn, mit den Flüchtlingen reden statt über sie. Das sind doch Menschen, mit denen kann man ja reden. Eigentlich weiß ich doch gar nichts über diese Menschen. Aber ich möchte nicht gleich mitarbeiten. Was mache ich jetzt?
Bernhard Grunewald: Es gab schon Vorbehalte gegen Gastarbeiter, gegen Ausländer. Aber irgendwann gab es den Ausländer in der Nachbarschaft, im Verein. Der war auszuhalten oder sogar ganz nett. Oder man hat sich sogar als Arbeitskollege ganz gut mit ihm verstanden. Es gibt die großen Vorbehalte und dann den Einzelnen, den man besser kennenlernt und der dann doch ganz in Ordnung ist. Und dann wird es interessant.

Wenn man mit Menschen sprechen will oder sich einbringen will: Unsere Mailadresse ist kontakt@insi.team.

Und man kann Nachrichten wahrnehmen, wie zum Beispiel die, dass gut 150 syrische Flüchtlinge teils über vier Monate im Ahrtal geholfen haben, weil sie wussten, wie man mit zerstörten Dörfern umgehen kann und helfen wollten. Das Individuum macht oft bewunderns-werte Entwicklungen. Der Impuls hierzu kam von einem syrischen inSi-Mitglied aus Singen, der nun selbst einen Helferverein für Katastrophenfälle gegründet hat.

Wochenblatt: Wenn man sich begegnen will, um etwas voneinander zu erfahren, müssen sich beide aus den bis-herigen Dunstkreisen hinausbewegen …

Integration als Einbahnstraße?

Bernhard Grunewald: Das fragen zum Beispiel die alten und auch hier geborenen Zugewanderten: Wir sollen uns immer noch integrieren? Das ist bei uns immer noch eine Einbahnstraßenhaltung: Die Menschen, die da kommen, sollen neue Plastikdeutsche werden. Dahinter ist das Nichtbeschäftigenwollen mit dem Fremden. Und viel Unsicherheit.

Wochenblatt: Das kann man ja gefühlsmäßig verstehen. Wer anders riecht, anders aussieht, der befremdet uns erst einmal. Und dann ist es eine Kulturfrage und vielleicht auch eine Frage der Reife, wie wir damit umgehen …
Bernhard Grunewald: Wenn man in Singen gerade die Ältesten fragt, die als Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg kamen, wie schwierig die Aufnahme hier teilweise war, und wie groß die Vorbehalte, bis hin zu dem Motto: Die fressen uns die Kartoffeln weg. Das „sich erst einmal gegen Fremdes stellen“, das ist wahrscheinlich eine ganz tiefliegende Skepsis in uns selbst. Fremdes ist fremd.
Aber über all die Jahre haben wir zudem ein Grundgefühl geschaffen, dass wir kein Einwanderungsland sind, sondern dass das Gastarbeiter sind, die ja wieder gehen.

Anwohner dazunehmen

Wochenblatt: Jetzt gerade passiert ja, dass die Flüchtlinge selbst dafür gesorgt haben, dass man davon ausging, die Ukrainer gehen ja schnell wieder in ihr Land. Der Krieg allerdings geht weiter und weiter. Was glauben Sie, was jetzt wichtig ist, auch für die Arbeit in den Gemeinden? Wie sollten wir damit umgehen, aus Ihrer Erfahrung? Die Leute werden in Lagern auf engstem Raum ohne Privatsphäre untergebracht. Kann das nicht haarig werden?
Bernhard Grunewald: So etwas wie die Kreissporthalle ist eine Notunterkunft, in der die Menschen bis zu sechs Monate verbleiben sollen, bevor sie den Anspruch auf Anschlussunterbringung haben. Sechs Monate in so einer Halle heißt auch, es kommen nachts Anrufe, es wird geweint, die Kinder werden wach. Die Nacht wird zum Tag.
Unser Anliegen war an die Stadt, dass wir die Anwohner nochmals zusammenholen in der Nordstadt, das hat 2015 auch geklappt. Diesmal geht es nicht um Ängste, sondern um mögliche Unterstützung. Mitleid heißt im besten Wortsinne zu fragen: Was braucht`s? Wir machen für diese Geflüchteten bereits re­gel­mäßig zentrale Beratung, füllen Anträge mit ihnen aus für das Jobcenter etc. Wir bieten Deutschkurse an, auch für die Menschen aus der Ukraine, bie­ten Kontakt zur orthodoxen Kirchengemeinde. Ich habe auch einen Dialog mit dem Denkmalschutzamt, um die Sa­nie­rung der Kapelle St. Michael hinzubekommen. Das ist Hintergrundarbeit. Es geht auch um ein spirituelles Angebot für die Menschen aus der Ukraine. Wir tauschen uns derzeit mit wei­te­ren Aktiven aus, was wir tun können und müssen, wenn wir nochmals 180 Leute in die Kreissporthalle bekommen, beginnend mit wohl 75 kommende Woche.

Wochenblatt: Sehen Sie eine Chance, was das Thema Wohnraum anbelangt? Ohne Hand-werker mit Zeit, ohne Rohstoffe und bei den Preisen?
Bernhard Grunewald: Der traumatische Konkurs der stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft und der Verkauf an den Ersten, dessen Weiterverkauf an den Zweiten, das ist sehr schwierig. Der Stadt entgleitet dann so etwas, sie hat keinen Zugriff mehr auf ehemals städtische Wohnungen. Da bezahlen Familien dann 1.300 Euro Miete an teils dubiose Vermieter und die Männer gehen nur für die Miete arbeiten. Bezahlbares Wohnen bleibt ein großes Thema in Singen und wir brauchen gemeinsame Perspektiven.
Wochenblatt: Singen ist sozialer Brennpunkt, aber man redet in der Stadt wenig, was man sozial tut.
Bernhard Grunewald: Man redet viel über Singen, aber wenig darüber, was hier geleistet wird. Die Stadtgesellschaft sieht das selbst eher kritisch. Und dann heißt es, die Syrer sind so undankbar, obwohl wir uns so viel Mühe geben, wenn sie sich dann auf offener Straße streiten. Ein Gutteil der Syrer in Singen findet das im Gespräch nicht gut und schämt sich auch für solche Landsleute.

Und die alten Familienfehden?

Wochenblatt: In der einen oder anderen Gemeinde heißt es dann: Für seinen Einsatz zahlt Singen dann den Preis, dass sich syrische Familien auf offener Straße mit Waffen be­kämpfen.
Wie sollen wir mit diesem Teil der Realität umgehen, auch wenn Gottmadingens Bürgermeister Klinger zu Recht sagt: Es gibt kriminelle Männer und Frauen – auch bei uns Deutschen.
Aber das Thema Sicherheits­empfinden in der Bevölkerung ist ein sehr subjektives. Und solche Konflikte sind uns fremd und machen vielen Angst, auch wenn diese Familienfehden mit uns ja wenig zu tun haben.
Bernhard Grunewald: Singen hat mit den blutigen Konflikten, die auf offener Straße ausgetragen werden, ein großes Problem. Es trifft das Image von Singen, was hier von großer Bedeutung ist, weil viele in der Stadt dafür kämpfen, dass Singen als Kulturstadt und Stadt mit Kultur wahrgenommen wird.
Ich teile nicht den Standpunkt, dass die Sicherheit in Singen gefährdet ist, sondern die syrischen Familien in Singen tragen ihre tiefgründigen und teils abgründigen Konflikte hier aus, an denen Assad Schuld mitträgt, weil er seine Lands-leute zerlegt hat in politische Lager, in Denkrichtungen, weil er das Land gespalten hat.
Wer allerdings in Deutschland gegen geltendes Recht verstößt, der stößt auf Polizei und Justiz. Und so ist es ja zu Recht auch in Singen passiert. Nur: Wer da ins Gefängnis wandert, das sind die jungen Leute. Die mögen zwar in den Familien so kleine Helden sein. Aber wie soll es gelingen, dass die Jungen eine Existenz aufbauen können, wenn sie aus dem Gefängnis kommen? Es sind immer wieder die jungen Leute, die hier keine Chance bekommen, deren Leben verpfuscht wird – und zwar letzt­lich von den Alten in den Familien, die ihre Konflikte weiterpflegen.

Und mein Ansatz ist: die Stadt Singen braucht hier professionelle Hilfe, die haben wir jetzt erstmalig bekommen vom Familienministerium. Zwei Pro­zessbegleiter vor Ort, die uns helfen, ein kommunales Konfliktmanagement aufzubauen. Wir als Verein unterstützen dies. Wir müssen mit den Großfamilien in einen Dialog kommen UND gleichzeitig ord­nungs­politisch wirken. Auch hier müssen wir mit den Menschen reden und nicht nur über sie. Und wir können Bedingungen stellen, wenn die Familien gleichzeitig etwas wollen.

Manches Anliegen trifft dann auf eine gewisse Eiszeit bei der Stadt, sofern die Bedingungen nicht erfüllt werden. Was nicht geht, ist, dass Regeln, die gelten, negiert werden. Der schwierige Punkt ist, dass die Sanktionen derzeit nur die jungen Leute tref­fen, die Verursacher sind aber die Älteren. Die Jungen werden, so kann man das fast sagen, in den Straßenkampf geschickt. Also müssen wir Bedingungen stellen, aber auch schauen, dass wir mit den da­hin­terliegenden Strukturen in Dialog kommen.
Mit der schwe­ren Hand der Ordnungskräfte auf der einen Schulter der be­tref­fenden Fami-lien und der anderen Hand auf der anderen Schulter mit der Botschaft: Lasst uns über Anliegen reden, die wir haben und die ihr habt.
Wobei alle Gerichtsverfahren bislang gezeigt haben, dass die Familien alte Konflikte mitgebracht haben, die wirklich abgründig sind.

Wochenblatt: Sie hatten vorhin gesagt: Es geht um einen Austausch zwischen Individuen. Was würden Sie sagen, was ist da wichtig, wenn ich merke, wir sind doch eigentlich alle anders? Wie geht es, den anderen in seinem Anderssein anzu-erkennen, nicht nur den Teil, der mir gerade in den Kram passt? Das ist doch ein Thema, das wir überall haben, wo Menschen sich treffen?

Vom vierten, fünften und sechsten Blick

Bernhard Grunewald: Es passiert aus meiner Sicht alles gleichzeitig. Wir suchen in dem anderen eine Bestätigung für unsere Vorurteile und wir su­chen das Attraktive, vielleicht das Gemeinsame. Die ersten Sekunden laufen ja unbewusst ab. Und wir suchen ja dauernd nach Kritikpunkten, die unsere negativen Gedanken bestätigen: Der Chef hat mich wieder nicht angeschaut, die Sekretärin war wieder schnippisch. Wir sind dauernd am Bewerten.
Gleichzeitig sind wir bereit zu empfinden, ob uns jemand entspricht oder vielleicht sogar attraktiv ist.
Meine Erfahrung: wenn es Menschen schaffen, in den Dialog zu kommen, sei es am Arbeitsplatz, im Camp, 2015 im Begegnungscafé der Liebfrauen-kirche, dann kann es passieren, dass man den eigenen Blick etwas absenken kann, der nach der Bestätigung des Negativen sucht oder einen Funken sucht, der überspringen soll. Dann hat jener Blick eine Chance, der Raum lässt für einen tieferen Dialog oder ein tieferes Beo­bachten. Beispielsweise wollen junge Menschen aus einigen anderen Kulturen ältere Menschen nicht beleidigen und können ihnen also nicht nein sagen, auch wenn sie etwas nicht tun wollen. Gleichzeitig wundern sich manche, dass hier Menschen am Sonntag in der Stadt herumlaufen, als wären sie im Schwimmbad. Oder warum Menschen total verhüllt sind oder bei 36 Grad im Pullover herumlaufen.
Das fragen wir uns – aber wenn wir darüber staunen können, wie Menschen so anders sein können, und es nicht werten müssen, wenn wir offen sein können und staunen wie ein Kind, dann ist viel gewonnen. Vielleicht können wir das auch wieder von den Kindern lernen. Ich habe gestern eine Story gehört von einem Geflüchteten, der sich jetzt mit einer Boots­satt­lerei selbständig macht. Viele Geflüchtete sind da sehr mutig, vielleicht sogar waghalsig, während wir im Land schon Probleme mit den Nachfolgeregelungen in vielen Familien-Unternehmen haben.
Ich habe in meinem Leben ge­lernt, den zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten Blick zu wagen. Damit ich besser verstehe.
Ernähre ich nur meine Vor­ur­teile oder komme ich noch ins Staunen?

Wochenblatt: Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Einblicke in Ihre Arbeit und Ihre Sicht.

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Eine/r folgt diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.