Volkstrauertag in Singen
"Den Schneeball zertreten, bevor er eine Lawine wird"

Michael Schrader (Reservistenkameradschaft Singen) sowie OB Bernd Häusler bei der Kranzniederlegung am ersten Denkmal. | Foto: Philipp Findling
11Bilder
  • Michael Schrader (Reservistenkameradschaft Singen) sowie OB Bernd Häusler bei der Kranzniederlegung am ersten Denkmal.
  • Foto: Philipp Findling
  • hochgeladen von Philipp Findling

Singen. "Wir erleben derzeit Ereignisse, welche von uns nicht selten bloße Ignoranz und Unkenntnis erhalten", erläuterte Singens OB Bernd Häusler an einem Volkstrauertag, der in diesem Jahr nicht nur in der Stadt unterm Hohentwiel unter besonderen Vorzeichen stand.

Es ist ein Tag des Gedenkens an die Toten von Krieg, Gewaltherrschaft und politischer Verfolgung. Begleitet von der Reservistenkameradschaft Singen sowie dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge begingen zahlreiche Bürgerinnen und Bürger diesen Tag, welcher musikalisch vom Schulorchester des Hegau-Gymnasiums unter der Leitung von Gabriele Haunz begleitet wurde, gemeinsam in der großen Einsegnungshalle des Singener Waldfriedhofs.
In seiner Rede ging Häusler auch auf die aktuellen Ereignisse in Israel ein. "Diese Menschen wissen, was sie anrichten, es ist Teil ihres Kalküls". Den "siegestrunkenen Hass", welchen die Hamas in ihren Videos, welche durch die Welt gehen, zeigen, könne man so nicht akzeptieren. Darüber hinaus ging er neben dem Ukraine-Konflikt mit dem "Aggressor Russland" mit der Situation Taiwans auf eine weitere, volksfeindliche Situation ein, so werde dieses Volk immer offener damit bedroht, um am Ende eine Zwangsherrschaft Chinas durchzusetzen. 
Zudem sei es mittlerweile wieder aktuell, dass sich Davidssterne an Häusern befänden und Kinder sich des Öfteren umschauen müssen, ob sie denn nicht bedroht werden. "Dies ist urdeutscher, importierter Antisemitismus", verdeutlichte Häusler. "Wir können die Welt zwar nicht ändern, aber dennoch einen Beitrag dazu leisten, in dem jede Botschaft, die man in Gedenken an die Toten mitgibt, gehört wird."

Die Wahrheit weiterlesen

Nach dem Musikstück "Da pacem, Domine", was übersetzt so viel wie "Gib Frieden, o Herr" bedeutet, von Melchior Frank schritt die Schülerin Helena Winkler vom Friedrich-Wöhler-Gymnasium zum Rednerpult. In ihrer Rede wandte sie sich per du zum Publikum und verwies zunächst auf den Begriff des Grauens, welcher selten im Alltag verwendet werde und all denen, die ihn unmittelbar spüren, keine Lebensgrundlage biete sowie deren Sicherheit verlieren ließe. "Wir, die überwiegend im Wohlstand leben, kennen dieses Gefühl nicht, da wir in der Realität zu weit weg davon sind, um Sorge in uns auszulösen."
Sie scheute auch nicht vor numerischen Vergleichen zurück, so seien im Zweiten Weltkrieg pro Stunde etwa 1.100 Menschen ums Leben gekommen, was in etwa auch der SchülerInnenanzahl des Friedrich-Wöhler-Gymnasiums entspreche. "Frieden kann nicht erzwungen werden, sondern nur durch Erkenntnis erreicht werden", zitierte sie Albert Einstein.
Zudem betrachte sie unsere aller Empathie als bedeutende Gabe für diese Aufgabe. Durch Beispiele von zwei verfolgten Juden aus dem Zweiten Weltkrieg zeigte sie, wie hart es sei, sich in die Panik dieser Menschen hineinzuversetzen. Es sei wichtig, die Wahrheit weiterzulesen sowie die engagierten Versuche, diese Taten den Menschen näherzubringen, zu würdigen. "In der Schule werden wir viel von Kriegen unterrichtet, aber verstehen wir sie auch?" stellte die Schülerin die berechtigte Frage. So erfahre man dieses "Nachbeben" meist erst durch die erste und zweite Generation danach. "Wir werden den wahren Emotionen nie nahekommen", stellte Winkler klar. Man dürfe in Zeiten wie heute nie aufhören, den Krieg zu hinterfragen. "Wir brauchen mehr, um unsere Gefühle in friedensstiftende Handelsmaxime umwandeln zu können".

Emotionale Kranzniederlegung

Nach dieser sehr bewegenden Rede sowie dem durch Lehrerin Gabriele Haunz und Michael Schrader von der Reservistenkameradschaft Singen durchgeführten Totengedenken und dem Stück "Ich hatt' einen Kameraden" gingen die noch gebliebenen Bürgerinnen und Bürger zu drei Kriegsdenkmälern, um dort die Kränze niederzulegen. Begonnen wurde hierbei am großen Denkmal zum Gedenken der gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, wo Bernd Häusler und Michael Schrader gemeinsam ihre Kränze niederlegten.
Die nächsten Kränze wurden bei den Massengräbern beim Materiallager, den sogenannten "Russengräbern" niedergebracht. Diese Stelle habe laut Häusler, der hier die Rede anstelle des erkrankten Willi Waibel hielt, eine ganz besondere wie grausame Bedeutung: "Hier befand sich zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs auch die Abfallstelle des Friedhofs, wo von den Offizieren die Leichen von französischen und russischen Kriegsgefangenen 'hineingeworfen' wurden." Auch ein ukrainischer Gefangener wurde hier neben einem russischen begraben.
Die letzte Gedenkstätte, an welcher Kränze niedergelegt wurden, war die der Opfer des Nationalsozialismus in Singen. Hierzu hielt Ryk Fechner für DIE LINKE.Konstanz auf Anfrage der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Konstanz eine Rede, die viele Anwesende zum Nachdenken anregte. " 'Nie wieder!', das klingt so einfach - und doch ist es so viel", verdeutlichte Fechner zu Beginn. Man habe den Blick auf die Geschichte zahlreich aufgearbeitet, vielfach recherchiert. "Und wenn die Toten von einst uns Mahnung sein sollen, was tun eigentlich wir?", so der Redner im Namen der VVN-BdA.
Dabei ging er auch auf das aktuell rapide Wachstum von rechtsradikalen Parteien ein, so seien es keine "normalen demokratischen AkteurInnen", welche die Mittel der bürgerlichen Demokratie nutzen, um eine Gesellschaft um 90 Jahre zurückzukatapultieren an den Anfang dessen, was der Anfang vom Ende war. Wenn es uns mit dem "Nie wieder" und der Trauer um die Opfer wirklich ernst sei, müsse man sich selbst fragen, was man aktuell dazu beitrage. "Wir müssen, frei nach Erich Kästner, den Schneeball zertreten, bevor er eine Lawine wird."
Zudem falle ihm durch alle Altersschichten häufig auf, wie gern Menschen im Zwiegespräch über persönliche Vorlieben die Diskussion mit dem Haupttor-Spruch des KZ Buchenwald "Jedem das Seine" abkürzen. "Wenn das der geschichsbewusste Fundus ist, mit dem wir die Lehren aus zwölf Jahren Hitler-Faschismus ziehen, ist das der beste Beleg dafür, dass die Erinnerungskultur nicht aufhören dar, sondern schleunigst eine Hochkultur benötigt." Ihm zufolge brauche man einen Aufstand der Anständigen, eine Politik der Menschlichkeit sowie der Aufklärung und des Humanismus als Antwort auf wiedererstarkenden Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus - das, was Menschen trenne.

Autor:

Philipp Findling aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

2 folgen diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.