Interview mit Claudia Kessler-Franzen und Dr. Gerd Springe von Singen aktiv
Das »Wohnzimmer der Bürger« als Standortfaktor

Singen aktiv | Foto: Claudia Kessler-Franzen und Dr. Gerd Springe in der umgestalteten Hegaustraße. swb-Bild: dh
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Singen. In den Monaten der Pandemie hatten viele Angst, dass die Innenstädte aussterben könnten. Darüber, warum es so wichtig ist, dass sie erhalten bleiben, und was dafür getan werden kann, dass das gelingt, sprachen Claudia Kessler-Franzen, die Geschäftsführerin, und Dr. Gerd Springe, der Vorsitzende von Singen aktiv Standortmarketing e.V., im Interview mit dem Wochenblatt.

Wochenblatt: Was hat Ihnen in Bezug auf die Singener Wirtschaft in den vergangenen Monaten die größten Sorgen gemacht?
Dr. Gerd Springe: »Unser größtes Sorgenkind war der Einzelhandel. Den hat es gleich mehrfach getroffen. Dadurch, dass die Händler nichts verkaufen konnten, blieben sie auf ihren Kollektionen sitzen, die modisch oder Jahreszeitabhängig sind und sich nach der Öffnung vielleicht nicht mehr verkaufen lassen, weil niemand im Sommer Wintersachen kauft und einiges bis zur nächsten Saison vielleicht schon wieder aus der Mode ist. Das hat viele hart getroffen. Insbesondere junge Geschäfte, die noch sehr stark von Fremdkapital abhängig sind. Dazu kommt, dass viele Menschen auf den Onlinehandel ausgewichen sind, um ihren Bedarf zu decken. Langfristig müssen diese Leute wieder zurückgewonnen werden für den lokalen Handel, damit die Innenstadt lebendig bleibt. Denn die Innenstadt ist das Wohnzimmer der Bürger. Sie hat eine wirkliche gesellschaftliche und soziale Funktion, ist aber stark abhängig von einem florierenden Handel.«
Claudia Kessler-Franzen: »Darum haben wir am vergangenen Samstag die Aktion »Herzlich Willkommen in Singen« gestartet, mit der wir eine Freundlichkeitsoffensive starten und echte Willkommenskultur leben wollen. Das ist nämlich genau das was das Internet nicht kann. Neben den genannten Bereichen hat uns aber auch die Gastronomie große Sorgen gemacht, die auch jetzt noch zu kämpfen hat, insbesondere weil es inzwischen an gutem Personal mangelt.«

Wochenblatt: Und wenn Sie sich die Innenstadt heute anschauen, nach den ersten Lockerungen, haben sich dann Ihre schlimmsten Befürchtungen eher bewahrheitet oder nicht?
Dr. Gerd Springe: (überlegt) »Die schlimmsten Befürchtungen haben sich so nicht bestätigt. Und wenn ich an den letzten Samstag (Anm. d. Red.: Start der Aktion »Herzlich Willkommen in Singen«) zurückdenke, dann war das ein Zeichen dafür, dass die Menschen nicht resignieren, sondern dass der Wille da ist, wieder selber aktiv zu werden und aus der Lethargie herauszukommen. Aber das ist kein Selbstläufer, sondern es muss gepflegt werden. Darum machen wir dieses Programm ja auch nicht eine Woche lang, sondern über vier Monate.«

Wochenblatt: Krisen sind ja manchmal auch Innovationstreiber. Haben Sie in den letzten Monaten Entwicklungen wahrgenommen, die auch für die Zeit nach der Krise wertvoll sein könnten?
Dr. Gerd Springe: »Viele Einzelhändler haben in dieser Zeit gelernt, dass ›Online‹ nicht eine totale Konkurrenz zu dem, was sie sonst tun, sein muss, sondern dass diese moderne Technik auch das Geschäft unterstützen kann. Da hat, glaube ich, eine mentale Öffnung stattgefunden.«
Claudia Kessler-Franzen: »Viele haben auch eine große Flexibilität bewiesen. Gerade die Unternehmen, die einen Lieferservice angeboten haben, die sich in anderer Form um die Kunden gekümmert haben, oder auch Gastronomen, die Essen geliefert oder Pakete gepackt haben zum Fertigkochen. Obwohl die Rahmenbedingungen in dieser Zeit sehr lähmend waren, kam ganz schnell ganz viel Initiative auf und das fand ich sehr beeindruckend. Wir erhoffen uns natürlich, dass diese Initiative und die kreativen Ideen auch bleiben.«

Wochenblatt: Warum ist denn eine lebendige Innenstadt überhaupt so wichtig?
Claudia Kessler-Franzen: »Eine lebendige Innenstadt ist ein Standortfaktor. Denn in der lokalen Wirtschaft gibt es ja nicht nur den Handel, sondern auch viele Industrie- und Handwerksbetriebe, und in vielen Gesprächen mit Geschäftsführern oder Personalleitern wird auch immer wieder deutlich, welch hohen Wert eine intakte Innenstadt hat.«
Dr. Gerd Springe: »Es ist ja ein Grundbedürfnis des Menschen, sich mit anderen zu treffen. Dazu braucht es einen Ort und eine Atmosphäre und diesen Raum schafft eine lebendige Innenstadt.«

Wochenblatt: Wenn man heute vom Bahnhofsvorplatz aus in die Singener Innenstadt schaut, stellt man fest, dass sich die Stadt in den vergangenen Jahren enorm herausgeputzt hat.
Claudia Kessler-Franzen: »Ja, das stimmt. Da ist ein komplett neues Quartier entstanden. Aber mit langem Atem: Am Anfang stand ein Einzelhandelskonzept rund um die Landesgartenschau im Jahr 2000 mit dem großen Ziel: Die Innenstadt muss geschützt werden. Sprich, es darf kein innenstadtrelevantes Sortiment auf der grünen Wiese geben. Damit hat man früh wichtige Anker in den Boden gesetzt als Fundament um die Innenstadt weiterzuentwickeln. Dann gab es das ›Innenstadt-Entwicklungskonzept 2020‹ und von Singen aktiv das Vier-Plätze-Konzept, bei dem wir gesagt haben, dass sich die Stadt unter den vier Plätzen: Bahnhofsplatz, Rathausplatz, Heinrich-Weber- Platz und Herz-Jesu-Platz aufspannen muss. Jetzt fügt sich dieses Puzzle aus vielen unterschiedlichen Maßnahmen zusammen und sorgt für diesen Effekt.«
Dr. Gerd Springe: »Ganz wichtig war für uns auch die Verbindung der beiden Fußgängerzonen August-Ruf-Straße und Scheffelstraße, damit diese als Einheit empfunden werden. Auch dies ist ja inzwischen mit der Hegaustraße verwirklicht, genau rechtzeitig zum Neustart nach Corona.«

Wochenblatt: Ist denn bei allen Verbesserungen, die schon umgesetzt wurden, überhaupt noch Luft nach oben?
Dr. Gerd Springe: »Zum einen gibt es natürlich im Detail noch immer Verbesserungsmöglichkeiten, zum anderen gibt es noch den Heinrich-Weber-Platz mit seinem großen ungenutzten Potenzial.«
Claudia Kessler-Franzen: »Daneben wird die Stadt jetzt beginnen, ein Innenstadt-Entwicklungskonzept 2030 auf den Weg zu bringen, bei dem wir uns als Singen aktiv natürlich auch wieder einbringen wollen. Wir würden uns besonders freuen, wenn es in diesem Rahmen auch eine Befragung unter den Bürgen geben würde dazu, wie sie ihre Stadt jetzt wahrnehmen.«

Wochenblatt: Würden Sie sagen, dass Sie gerade eine Aufbruchstimmung erleben, nach den ersten Lockerungen, die mittlerweile in Kraft sind?
Claudia Kessler-Franzen: »Ja! Was man wirklich sieht, ist, dass sich diejenigen, die in der Innenstadt sind, wirklich darüber freuen. Sie freuen sich, wieder raus zu können, sich wieder begegnen zu können und dass das soziale Miteinander, das in einer Innenstadt eine große Rolle spielt, wieder stattfinden kann. Aber wie Herr Dr. Springe bereits gesagt hat, muss man dafür auch einiges tun, weil die Leute natürlich gelernt haben, dass Einkaufen auch einfach vom Sofa aus geht. Trotzdem glauben wir, dass der stationäre Einzelhandel eine gute Chance hat, weil man ja jetzt in der Zeit der Schließung gesehen hat, dass da wirklich ein Grundbedürfnis danach besteht, in eine Innenstadt zum Einkaufen zu gehen. Das Schöne, was wir zudem gerade sehen ist, dass viele Gastronomien neu eröffnen. Über Corona hinweg haben wir insgesamt, mit Eröffnung des Cano, 15 neue Gastronomien in der Singener Innenstadt dazubekommen. Die Aufbruchstimmung zeigt sich auch darin, dass sich einige dazu entschlossen haben, sich in entstehenden Leerständen wieder neu anzusiedeln oder sich schon angesiedelt haben. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir in ein- bis zwei Jahren nochmal eine ganz andere Stadt haben, die sehr ansprechend ist und genau die Themen ›Lebendigkeit‹ und ›Ort der Begegnung‹ noch besser widerspiegeln wird.«

Wochenblatt: Wie krisensicher hat sich denn die Singener Wirtschaft gezeigt?
Claudia Kessler-Franzen: »Wir haben das Gefühl, dass Singen die Krise bisher ganz gut verkraftet hat, auch wenn man das natürlich zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich noch nicht wirklich beurteilen kann. Man darf natürlich, jetzt wo wir so viel über das Thema Handel sprechen, auch die Singener Industrie nicht vergessen, denn sie bildet mit ihren Mittelständlern und den Handwerksbetrieben die Basis dafür, dass das notwendige Geld vorhanden ist, um in einer solchen Innenstadt die erforderlichen Umsätze zu generieren.«
Dr. Gerd Springe: »Und man muss sagen, unsere Industrie hat sich wacker geschlagen. Zum einen, weil sie sehr stark diversifiziert ist, denn in Singen sind die unterschiedlichsten Branchen angesiedelt, zum anderen, weil durch die Singener Betriebe und ihre Kunden viel exportiert werden konnte.«

Wochenblatt: Verordnungen kamen in den letzten Monaten oft sehr kurzfristig, manche Regelungen waren schwer verständlich. Haben Sie Verbesserungsvorschläge oder -wünsche an die Landes- oder Bundespolitik?
Claudia Kessler-Franzen: (lacht) »Ja, wir haben auch schon sehr aktiv an die Politik geschrieben. Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister haben wir die Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten angeschrieben, auch die Sozialministerien haben wir mehrfach angeschrieben, weil wir manchmal das Gefühl hatten, dass das Wissen um das, was an der Basis passiert, nicht so im Detail vorhanden war, wie es notwendig gewesen wäre. Wir haben in dieser Zeit auch sehr viel mit unseren Abgeordneten auf Landes- und Bundesebene gesprochen, die auch wirklich gute Partner waren und die diese Kommunikation auch brauchten. Gerade bei den Überbrückungshilfen ist dann ja auch noch viel nachjustiert worden. Insgesamt hätten wir uns aber eine bessere Kommunikation mit den Ministerien gewünscht. Diese dürfen keine Blackbox sein, denn sonst leidet die Demokratie.«

Wochenblatt: Was macht Ihnen im Moment am meisten Mut?
Claudia Kessler-Franzen: »Mut machen uns im Moment die sinkenden Inzidenzzahlen.«
Dr. Gerd Springe: »Auch wenn uns diese nicht in zu großer Sicherheit wiegen dürfen.«
Claudia Kessler-Franzen: »Genau. Insgesamt sind wir aber guten Mutes und hoffen trotz allem, dass die Mutationen des Virus nicht dafür sorgen, dass es im Herbst wieder zu einer großen vierten Welle kommt.«

- Dominique Hahn

Autor:

Redaktion aus Singen

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