Über ein paar Tage in Tübingen
Bestandsaufnahme in der Modellstadt
Tübingen. Schon auf der Fahrt in Richtung Stadtmitte werde ich als Besucher darauf aufmerksam gemacht, dass hier etwas anders ist als im restlichen Deutschland: »Erst testen, dann shoppen!« steht unter den großen Parkleitschildern in Leuchtschrift. Wer nicht als Geschäftsreisender oder als Einheimischer in der Stadt ist, hat mittlerweile drei Orte, an denen er sich testen lassen kann, alle am Rand der Innenstadt.
Ich bin als Geschäftsreisender da, weil ich eine Fortbildung besuche und kann also einen Test, den ich auf der Fortbildung von ärztlichem Personal habe machen lassen, in ein Tagesticket umtauschen. Die Teststation ist auf dem Marktplatz. Auf dem gepflasterten Platz sitzen Paare, kleine Gruppen von Studenten in den Straßencafés und trinken in der Sonne ihren Cappuccino oder Latte Macchiato. Überfüllt ist es nicht. An der Teststation komme ich ins Gespräch, mich interessiert, wie es angenommen wird, das »Erst testen, dann shoppen und Innenstadt genießen«-Modell. »Gut«, sagt eine der Hilfskräfte. Die meisten würden gut damit umgehen, auch wenn es immer wieder Versuche gebe zu tricksen und zum Beispiel Tagestickets weiterzugeben an Freundinnen oder Freunde. Ungefähr 20 Leute warten an der Teststation, 70 seien in den letzten 14 Tagen insgesamt in Tübingen bei den Schnelltests in der City positiv getestet worden, bei 30, lese ich später, hat der PCR-Test das Ergebnis bestätigt. »Wer positiv getestet wird, ist natürlich nicht begeistert.«
In den Geschäften erlebe ich ausgesuchte Freundlichkeit und dankbare Angestellte. »Das Nichtstun ist endlich vorbei, wir können wieder für die Kunden da sein.« In dem Restaurant, in dem ich abends esse, auch wieder: Freundlichkeit und Dankbarkeit. Biersorte gibt es nur eine: Noch traut sich die Pächterin nicht, mehr Biersorten her zu tun, nachdem sie Ende letzten Jahres viel Bier wegschütten habe müssen. Als das Essen kommt und das Bier auf dem Tisch steht, spüre ich tatsächlich so etwas wie ein Glücksgefühl, hier sitzen zu dürfen.
Ich schlendere durch die Stadt, es ist ungewohnt, abends so viele Stimmen zu hören, so viel Leben zu spüren. Mit einer Studentin und ihrer Mutter komme ich ins Gespräch. Die Studentin sagt, dass die Studenten den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eigentlich gar nicht so mögen, er fahre schon einmal mit dem Fahrrad abends durch die Stadt und maule Studenten an, die zu laut seien. »Wie ein Sheriff«, fügt sie hinzu. Ich höre mich sagen, vielleicht braucht es so jemanden, weil wer öffnet, muss auch klare Grenzen ziehen können. Jetzt, sagt die Studentin, seien sie Palmer jedenfalls dankbar für den Tübinger Weg.
Am nächsten Abend – tagsüber bin ich am Lernen – erzählt mir eine Bedienung im Hotel, dass er, seitdem die Menschen mit Tests wieder in der Stadt genießen können, von privaten Partys nicht mehr viel höre. Das sei vorher ganz anders gewesen.
Neben mir sind zwei Paare, die eigens aus einer größeren Nachbarstadt zum Abendessen gekommen sind. Ich lese im Internet, dass der SPD-Politiker und Virologe Karl Lauterbach Boris Palmer angreift, indem er auf Facebook schreibt: »Auch #Tübingen schafft es nicht.« Boris Palmer kontert, dass Lauterbach die Landkreiszahlen als Grundlage seiner Aussage genommen habe, statt die Zahlen der Stadt. Tübingen aber ist Modellstadt, nicht Modelllandkreis. Palmer sehr direkt zu Lauterbach: »Erst informieren, dann urteilen. Gerne mehr am Telefon. Sie werden sofort durchgestellt.« Zusammen mit Dr. Lisa Federle, der Pandemiebeauftragten, die in Tübingen mindestens eine so große Rolle spielt bei der Öffnungsstrategie wie der Oberbürgermeister, nimmt Palmer Stellung: Seit zwei Wochen bewege sich die Inzidenz in der Stadt Tübingen in einem Korridor zwischen 20 und 30. Die größten Arbeitgeber der Stadt hätten alle mit regelmäßigen Testungen der Belegschaft begonnen. Der letzte Stand: Die Inzidenz war jetzt 14 Tage lang unter 35. Jetzt ist die Zahl bei 78,8 (Dienstag). Laut Boris Palmer wegen eines Ausbruchs in der Landeserstaufnahme für Flüchtlinge.
Und Lisa Federle schreibt: wir haben das diffuse Infektionsgeschehen in Tübingen durch eine einmalige Testkampagne besser unter Kontrolle gebracht als viele Kreise, in denen lediglich der Lockdown zur Pandemieabwehr eingesetzt wird. Tübingen habe trotz der meisten Tests in Deutschland und der niedrigsten Dunkelziffer in Deutschland, eine der niedrigsten Inzidenzen in Deutschland.
Beide bitten mittlerweile die ganze Bevölkerung, sich mindestens zweimal die Woche testen zu lassen. Palmer versucht dafür zu sorgen, dass so wenig Auswärtige wie möglich kommen und dass diese außerhalb getestet werden, auch damit die wissenschaftliche Begleitung des Modells valide Daten hat. Ich gehe nochmals durch die Stadt: Es ist dunkel, die Straßenrestaurants haben noch offen, die Studentenstadt lebt, auf den Treppen sitzen Studenten und trinken Bier, der eine oder andere hat seine Lautstärke nicht mehr unter Kontrolle. Am nächsten Morgen: Coronatest im Hotel vor den kritischen Augen von eigens ausgebildetem Personal. An das tägliche Stäbchen in der Nase habe ich mich schnell gewöhnt. Palmer findet am nächsten Tag klare Worte via Facebook: »Rudelbildung mit Alkohol, das freut nur Corona.« Die Vernünftigen werden das akzeptieren. Alle anderen werden uniformierte Sicherheitskräfte zur Einsicht bringen. Die Wirtin im Hotel versteht diese Menschen nicht: »Die sabotieren, an dem so viele gut beteiligt sind.« Sie glaubt, dass man solchen Menschen entschlossen begegnen muss.
Bevor ich abreise, bekomme ich mit, wie viele Städte sich als Modellstadt bewerben. Singen ist dabei, der Landkreis Konstanz auch.
Und in Tübingen justiert Palmer derweil nach: Die Leute sollen weiter in der Stadt sein dürfen, ab 20 Uhr, da hätte er nichts dagegen zu sagen, sei dann Schluss, sagt er in einer Konferenz mit »Bild«. Und über Ostern gibt es ohnehin nur Tests für Leute aus dem Landkreis Tübingen. Es wird laut über eine Kostenbeteiligung der zu Testenden nachgedacht. Für Boris Palmer ist die Strategie erfolgreich.
Und nach Ostern wird ausgewertet …
Autor:Anatol Hennig aus Singen |
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