Hausärzte sagen: „So gehts nicht weiter"
Am Mittwoch bleiben auch die Praxen in Singen aus Protest geschlossen
Singen. »Wir protestieren für den Erhalt Ihrer Hausarztpraxis«, steht an diesem Mittwoch an vielen Türen von Hausarztpraxen im ganzen Land, auch als einer der Schwerpunkte in Singen. Denn zusammen mit der Vereinigung der Hausärzte in Baden-Württemberg vertreten die den Standpunkt, dass durch das aktuell in Verhandlung befindliche Stärkungsgesetz der gesetzlichen Krankenkassen, mit dem angeblich Milliardendefizite aufgefangen werden sollen, die ambulante Hausarztstruktur zu Tode gespart würde, sprich so geschwächt werde, dass viele Praxen das schlichtweg nicht überleben. Der Protesttag wurde im Vorfeld lange angekündigt und die Patienten angesprochen und um Unterstützung gebeten.
Gründe für diesen politisch orientierten Ausstand für einen Tag gibt es, für die organisierten Hausärzte eine ganze Reihe: Einer ist die Ankündigung der Pläne des Gesundheitsministeriums, die erst frisch gestartete Terminserviceregelung für NeupatientInnen wieder zu streichen. »Die Praxen sind voll. Steigende Fälle von Erkältungskrankheiten, die Behandlung von Coronapatienten und die Betreuung chronisch kranker Menschen fordern die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen und ihre Teams der medizinischen Fachangestellten bis zum Anschlag und darüber hinaus. Doch die Versorgung funktioniert – und das wird von der Politik nicht nur nicht anerkannt, sondern mit der geplanten Streichung der Neupatientenregelung wirft die Ampel-Koalition uns auch noch Knüppel zwischen die Beine«, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Dr. Stephan Hofmeister, in seiner Protestnote am Montag. »Kein Wort zudem dazu, dass die Belastungen aus der Energiekrise nicht nur Krankenhäuser treffen, sondern auch die Praxen. Sie müssen genauso unterstützt werden wie die Krankenhäuser, sonst droht denen buchstäblich das Licht auszugehen«, so Hofmeister weiter. Und darum protestieren auch hier die Ärzte, auch weil ihnen ihre Arbeit nach wie vor am Herzen liegt.
Diese Terminserviceregelung war eigentlich in den bisher wenigen Jahren ihres Lebens ein richtiger Renner gewesen: Im ersten Quartal 2022 war die Zahl der Neupatientenfälle mit 27,1 Millionen so hoch wie noch nie seit Einführung der Regelung 2019, stellte erst jüngst das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung fest.
Der Mangel an Hausärzten wird sich verschärfen
»Ohne die Praxen der niedergelassenen Hausärzte und Fachärzte sowie der Psychotherapeuten ist eine flächendeckende und umfassende Versorgung der Menschen undenkbar«, sagte Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg am Montag bei der Ankündigung landesweiter Protestaktionen. »Anstatt zu bremsen, muss Politik die ambulanten Strukturen stärken und darf die niedergelassenen Ärzte nicht ständig demotivieren.« Genau das Gefühl geht allerdings derzeit in vielen Praxen um, die nun sozusagen zu einem Befreiungsschlag ausholen.
Denn die geplante Streichung des Terminsystems ist nur ein Punkt der Schmerzen auf einer langen Liste. Denn die gesetzlichen Krankenkassen fordern wegen der Defizite, die freilich in der Höhe von 17 Milliarden Euro von einigen Stellen aus bezweifelt werden, sodass in den nächsten zwei Jahren keine inflationsbedingten Anpassungen der Vergütung an die Ärzte vorgenommen werden sollen. Das hat für viele Ärzte im ganzen Bundesgebiet ein Fass zum Überlaufen gebracht. Schon letzte Woche gab es zum Beispiel in Bayern eine Welle des Protests gegen die anstehenden Zäsuren, die milde ausdrückt als »mangelnde Wertschätzung« eines Berufsstands gewertet werden. An diesem Mittwoch nun, werden auch in der Region, mit Schwerpunkt in Singen, die Ärzte ihre Praxen geschlossen lassen, kündigte Birgit Kloosals Sprecherin der Hausärzte an. »Sie müssen allein die aktuelle Inflation von zehn Prozent sehen, in zwei Jahren sind das mindestens 20 Prozent weniger«, rechnet Birgit Kloos hier vor. Und mit diesem »weniger« müssten dann weitere Mehrkosten beglichen werden, Personal bezahlt werden, das ohnehin schon lange auf mehr »Wertschätzung« für den oft anstrengenden Einsatz warte, was auch viel aushalten müsse in den aktuellen Zeiten, wo der immer spürbarere Personalmangel auch schon mal für verkürzte Öffnungszeiten sorgt, wofür Patienten auch nicht immer Verständnis hätten.
Die meisten machen mit
In Singen werden sich die Hausarztpraxen Anghelescu, Cologna/Haj, Förg, Graf/Göthling, Kählert, Kloos, Kromrey, Lutz, Ch. Oexle und Wiesendanger an der Aktion beteiligen. »Das ist der größere Teil der Praxen in der Stadt Singen. Wir sind schon über unsere Vertretungsrunde für Urlaube miteinander immer in Kontakt«, so Dr. Kloos mit ihrer Praxis in der Südstadt auf Nachfrage des Wochenblatts.
Denn es gibt noch mehr, was die Hausärzte nicht nur hier in der Region drückt und auch unter den Begriff Wertschätzung fällt: denn rund 90 Prozent der Covid-19-Behandlungen, die ambulanten eben, hätten in den letzten zweieinhalb Jahren die Hausärzte gemacht. »Unsere MitarbeiterInnen fallen vermehrt krankheitsbedingt aus, weil die erschöpft sind, oder wechseln in stressärmere Arbeitsplätze oder gar andere Branchen. Neue MitarbeiterInnen sind kaum zu bekommen, sodass Sprechzeiten reduziert werden müssen«, führt Dr. Birgit Kloos aus. Die merkt das in ihrer Praxis auch in dieser Schärfe und sieht das Modell angezählt. »Und wer weg ist, zum Beispiel in eine Klinik oder gar in einen anderen Job gewechselt hat, der kommt nicht mehr zurück«, macht sie deutlich. Viele seien ausgebrannt, erschöpft, demotiviert.
Nicht nur Mitarbeitende zu finden, wird zur Herkules-Aufgabe, sondern auch die Suche nach möglichen Nachfolgern. Denn gerade junge Ärzte wollten sich sowas meist nicht mehr antun. Man müsse sich klar sein, dass dies zu einer weiteren Verschlechterung der ambulanten Versorgung der Bevölkerung führen würde, sagt Birgit Kloos weiter. Sie fordert auch die Patienten dazu auf, in dieser besonderen Situation an der Seite ihrer Ärzte zu stehen.
Task-Force und MVZ-Initiativen
Die Hausärzte sehen ja schon seit vielen Jahren ihren Berufsstand in Gefahr. Nicht umsonst wurde auch für den Landkreis eine Kommission gebildet, die die Versorgung insbesondere des ländlichen Raums im Auge hat, um »weiße Flecken« möglichst früh vorauszusehen und eventuell gegenzusteuern. Über diese Entwicklung sind dadurch eigentlich auch alle politischen Ebenen informiert.
Gemeinden und Städte haben zum Teil auch schon längst reagiert: Engen war die erste Stadt hier in der Region, die auf ein Medizinisches Versorgungszentrum – freilich als Ersatz fürs Krankenhaus – setzen konnte. Das Tengener Ärztehaus auf genossenschaftlicher Basis zielt in eine ähnliche Richtung, in Stockach steht die Bildung eines solchen MVZ bevor, das ebenfalls die ärztliche Struktur in der Stadt wie Raumschaft Stockach kräftigen soll und im Frühjahr nächsten Jahres unter finanzieller Beteiligung der Gemeinden der Raumschaft in Betrieb gehen könne, wurde jüngst angekündigt.
Und auch in Singen werden die aktuellen Entwicklungen nicht nur mit Sorgen betrachtet, sondern die Schritte in die Zukunft geplant. Denn Singen könnte bald schon manchen weißen Fleck aufweisen in der ärztlichen Versorgung. Laut der Zahlen des Ärzteverbands sind mehr als 46 Prozent der im Mittelbereich Singen (das bedeutet die Umlandgemeinden eingeschlossen) ansässigen Hausärztinnen und -ärzte älter als 60 Jahre. Dieser Anteil ist somit höher als im landesweiten Durchschnitt (37,9 Prozent) und ein Signal, das die Stadt Singen mit »brisant« umschreibt. Brisant auch aus Sicht der Ärzte selbst, die ihre Chancen auf Nachfolge durch die aktuelle Politik ziemlich eingeschränkt sehen.
Schon vor der Sommerpause hat der Singener Gemeinderat daher einen Grundsatzbeschluss für ein Medizinisches Versorgungszentrum als Antwort auf diese Entwicklungen gefasst. »Wir müssen unsere Ärzteversorgung mit einem Angebot sichern, das auch den Lebensentwürfen jüngerer Ärzte entspricht«, umschreibt Singens OB Bernd Häusler die Vorteile der großen Gemeinschaftspraxen, bei denen nicht nur die eigentliche Gesundheitsarbeit, sondern auch die Bürokratie auf mehr Schultern verteilt werden könne. Noch im November, so hofft Häusler, sollen die Ärzte aus der Stadt hier zu einer Runde über das Thema MVZ zusammenkommen, sagte er auf Nachfrage.
Autor:Oliver Fiedler aus Gottmadingen |
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