"Wahrheit" aus Demoskopen-Sicht
Die Demoskopie als Wahrheitstest
Im Institut für Demoskopie Allensbach hängt ein großes Ölgemälde an der Wand, gemalt im 19. Jahrhundert in Südamerika. Es zeigt eine Meeresbucht, in der ein einzelnes prächtiges Segelschiff liegt. Dahinter erhebt sich eine Felseninsel aus dem Meer, auf der eine Burgruine thront. Umgeben ist die Bucht von üppiger, tropisch anmutender Vegetation, im Hintergrund erheben sich mächtige Felsengebirge.
Das Bild trägt den Titel „Der Hafen von Hamburg.“
Was hat das Bild mit dem Thema Wahrheit zu tun? Nun, es zeigt zunächst einmal etwas offensichtlich Unwahres. Die dargestellte Landschaft hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Hafen von Hamburg (oder mit irgendeinem anderen Ort dieses Namens in Amerika). Doch es steckt noch etwas Grundsätzlicheres dahinter.
Man kann vermutlich sehr lange darüber philosophieren, was genau Wahrheit ist, ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen. Doch es wäre wohl schon einiges gewonnen, wenn man wenigstens eindeutige Unwahrheit identifizieren könnte. Das ist aber gar nicht so leicht. Beim Stichwort „Unwahrheit“ denkt man an direkte Lügen, offensichtlichen Unsinn oder „Alternative Fakten“. Letztere sind ohne Zweifel ein großes gesellschaftliches Problem, doch in der Regel auch leicht zu erkennen. Meist betritt die Unwahrheit den öffentlichen Raum aber nicht als Lüge, sondern als mit bestem Gewissen weitererzählte gefühlte Wahrheit. Sie beherrscht das Denken und formt das Weltbild, weil sie so einleuchtend ist. Man kommt gar nicht auf den Gedanken, dass sie der Überprüfung bedürfte.
Hier liegt die Aufgabe der Demoskopie: Wenn ein Maler versucht, einen Ort darzustellen, von dessen Aussehen er offensichtlich nicht die geringste Kenntnis hat, gestützt allein auf Vermutungen, erscheint uns das seltsam. Doch wenn in öffentlichen Diskussionen, bei juristischen oder politischen Debatten Thesen über angebliche Meinungen, Motive und Gefühle der Bevölkerung aufgestellt werden, gestützt allein auf Vermutungen, dann erscheint das nur sehr wenigen Menschen seltsam. Und so ist die öffentliche Diskussion voll von Behauptungen, die alle für wahr halten, nur, weil sie einleuchten: Die Gesellschaft werde immer rücksichtsloser und drifte immer weiter auseinander, die Armen würden immer ärmer, es gebe seit Jahrzehnten immer mehr Politikverdrossenheit, in der Großstadt vereinsamten die Menschen, für die Jugend sei das Klima das wichtigste Thema und sie habe einen Rechtsdrall. Das sei ja klar, heißt es dann, das wisse ja jeder.
Tatsächlich ist nichts davon wahr. Man glaubt es nur zu wissen. Diesen Irrtum aber kann nur die Umfrageforschung aufklären. Denken allein reicht nicht. Wer wissen will, wie es in Hamburg aussieht, muss hinfahren. Wer wissen will, was die Menschen umtreibt, muss sie fragen. Und wer dies tut, stellt immer wieder überrascht fest, wie viele vermeintliche Wahrheiten tatsächlich nur Vorurteile sind. „Wenn wir überrascht sind“, soll Paul Valery einmal gesagt haben, „stehen wir der Wirklichkeit gegenüber.“ Der Wirklichkeit, nicht unbedingt der Wahrheit. Aber immerhin.
von Dr. Thomas Petersen
Autor:Redaktion aus Singen |
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