Leserbrief zur Demonstration gegen Spaziergänge
Definition von Solidarität zu einseitig

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Öhningen. Zum Artikel über die Online-Demonstration gegen die Montagsspaziergänge erreichte uns folgender Leserbrief:
»Sehr geehrter Herr Storz,
wie ich gestern gelesen habe, fordern Sie mit Ihrer Aktion „Nur gemeinsam sind wir stark gegen Corona“ eine Gegendemonstration. „Wir wollen ein Zeichen für mehr Solidarität und Miteinander in Singen und im Hegau setzen… Diese Versammlungen sind illegal und Sie haben kein Verständnis dafür, wenn demokratische Spielregeln vorsätzlich missachtet werden.“

Nach diesem Artikel, ist es mir ein wirkliches Anliegen, Ihnen zu berichten, was ich als Beobachter dieses „Spaziergangs“ empfunden habe:
Ich konnte keine „rechten“ Tendenzen (Reichsbürger, AFD, Rechtsextreme etc.) erkennen und wurde auch von niemanden diesbezüglich angesprochen.
Bei den Spaziergängen in Singen gab es keine Gewalt, keine Provokation… es war ruhig mit Ausnahme von Trillerpfeifen und den vereinzelten Rufen „Friede, Freiheit, Demokratie“.
Thema in den Gesprächen war nicht nur die Impfpflicht, sowie die Folgen der Maßnahmen.
Gespräche die ich verfolgt habe, hatten Beispielsweise folgenden Inhalt:
Zwei Familien mit Kindern unterhalten sich über die Schule, die Kinder waren in der dritten, vierten und fünften Klasse. Die Eltern machen sich Sorgen, wie das weiter gehen soll, jetzt wo der Wechsel in die weiterführende Schule ansteht. Welches Lerndefizit haben ihre Kinder durch den langen Distanzunterricht?
Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma unterhalten sich über ihren Job. Keine Veranstaltungen, keine Konzerte, kein Club … alles geschlossen. Diese Menschen machen sich große Sorgen über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze und um ihre Existenz.
Diese Menschen sind keine Coronaleugner, vielmehr suchen sie eine Ausdrucksweise für ihre großen Sorgen und ihre Perspektivlosigkeit.

Gerne will ich Ihnen auch meine Situation und meine Beweggründe darstellen:
– Ich bin Unternehmer im Hegau
– Ich beschäftige zehn festangestellte Mitarbeiter
– Bin Vater von drei schulpflichtigen Kindern
– Meine Kinder, meine Mitarbeiter und ich, wir sind alle geboostert!
Aus Sicht des Unternehmers ist es mir seit 2 Jahren verboten (aus Solidarität) einen Gewinn oder einen Unternehmerlohn zu erwirtschaften. Ich werde gezwungen meine Altersvorsorge aufzubrauchen um den Fortbestand des Unternehmens zu gewährleisten. Ich verwende also meine privaten Rücklagen, um meinen Mitarbeitern weiterhin einen Arbeitsplatz zu sichern.
Ich nehme Kredite auf, von denen ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiß, wie ich sie zurückzahlen soll. Meine Motivation, meine Energie, meine Perspektive, meine finanziellen Möglichkeiten… all das ist nach zwei Jahren so gut wie nicht mehr vorhanden.
– die Hilfen decken leider nicht die anfallenden Kosten. Die Überbrückungshilfe deckt maximal die Fixkosten (bis Sommer 2021). Alle anderen Kosten trägt also der Unternehmer.
– nach zwei Jahren ist der Begriff Überbrückungshilfe aus Sicht eines Unternehmers auch nicht mehr passend. Was soll denn überbrückt werden? Die Zeit von einem rentablen Unternehmen bis zur Insolvenz meines Unternehmens?
– im Moment ist man antragsberechtigt, wenn der Umsatz um mindestens 30 Prozent eingebrochen ist. Ich kenne kein Unternehmen aus den Branchen Gastronomie, Hotellerie, Kultur, Event, Einzelhandel, Freizeit… welches eine Umsatzrendite von 30 Prozent ausweist.
Umgekehrt ist es vielen Unternehmern unerklärlich, dass Unternehmen, die aufgrund der Leistungsbereitschaft Ihrer Inhaber und deren Mitarbeiter /innen „nur“ ein monatliches Defizit von 20%-25% nachweisen, völlig von der Förderung ausgeschlossen sind. Also gerade die „leistungsfähigeren“ Unternehmen „abgestraft“ werden und damit in die Insolvenz getrieben werden.
Kein Unternehmer kann -über 24 Monate- hinweg mindestens 30% des fehlenden Umsatzes von „privat“ einlegen.
All die von den Coronamaßnahmen betroffenen Unternehmen erwirtschaften im Moment keinen Gewinn und keinen Unternehmerlohn. Der Unternehmerlohn stellt in der Regel das Familieneinkommen dar. In meinem Fall kann ich sagen, dass das Familieneinkommen in den letzten zwei Jahren im sechsstelligen Minusbereich ist.
Das diese Situation meine Kinder und unser Familienleben extrem belastet, brauche ich vermutlich nicht zu erwähnen. Ebendies gilt auch für meine Mitarbeiter/innen und deren Familien. Die Mitarbeiter, die lange Zeit in Kurzarbeit waren, erkennen, dass nach zwei Jahren die Perspektive nicht mehr rosig ist. Zehn Familien in meinem Unternehmen bangen im Moment um ihre Existenz.
Viele Branchen können aufgrund der Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung und aus Gründen der „Solidarität“ nicht oder nur beschränkt ihrer Arbeit nachgehen.
Diese Maßnahmen widersprechen sich vielfach oder können logisch nicht erklärt werden. Ein aktuelles Beispiel: die Gastronomie muss um 22.30 Uhr schließen, Fitnessstudios - ebenfalls mit Getränkeausschank - dürfen bis 24 Uhr geöffnet haben.
Teilweise wurden diese Maßnahmen nachträglich gerichtlich aufgehoben, waren also definitiv auch illegal.
Eine Maßnahme und deren Umsetzung für die Unternehmer will ich Ihnen hier gerne exemplarisch darstellen. Die Landesregierung hat „2Gplus“ beschlossen.
Diese Änderungen der Corona-Verordnungen werden grundsätzlich immer freitags oder samstags verkündet und gelten dann bereits am nächsten Morgen. Oder besonders unternehmer- und familienfreundlich für die Gastronomie, am 23.12. abends, mit Gültigkeit ab 27.12.2022.
Die Umsetzung des „2Gplus“ wurde am Freitag, später Nachmittag veröffentlicht. Inkrafttreten dieser Maßnahme bereits am Samstag. Gewerbeamt, Gesundheitsamt… Freitagnachmittag für Nachfragen nicht mehr erreichbar. Aus Sicht des Unternehmers bedeutet dies: ich benötige Tests, Bedarfsanalyse: pro Tag 150 bis 200, fürs Wochenende auf jeden Fall 300, Bezugsquellen? Bei dieser Menge nur Internet, Kosten 3,00–5,00 Euro, Lieferzeit mind. 3 Tage. Bestellmenge festlegen: 1500 Tests á 3,50 Euro = 4.500,-- Euro. Bestellen! Samstagmorgen bereits Kontrolle Polizei, Gewerbeamt. Samstagmittag: „Geboosterte“ brauchen keinen Test. Sonntag: frisch geimpft 3, 5 ,6 Monate? Braucht man nun plötzlich auch keinen Test mehr. Montagabend Herr Ministerpräsident Kretschmann entschuldigt sich für das „Wirrwarr am Wochenende“. Kosten für den Unternehmer … egal… Danke für das schöne Wochenende!
Oder Änderung der Corona-Verordnung zum 27. Dezember. Verkündung am 23.12. in den frühen Abendstunden. Was ist zu tun für den Unternehmer? Es wurde eine FFP2 Maskenpflicht in Innenräumen bestimmt, eine Sperrzeitverkürzung für die Gastronomie verordnet und die Vorgaben zur Einlasskontrolle dahingehend verändert, dass nun eine Testpflicht besteht für alle Kunden/innen, die länger als drei Monate „geimpft/ genesen/geboostert“ sind.
Für den Unternehmer bedeutet dies keine „Feiertage“ ….an Heiligabend schnell noch losfahren und irgendwo 1000 FFP2 Masken organisieren und zu völlig überhöhten Preisen kaufen. Neue Tests kaufen, da nun auf einmal mehr Kunden getestet werden müssen. Neue Dienstanweisungen für die Mitarbeiter schreiben, Mitarbeiter informieren, neue Aushänge für die Eingangstüren anfertigen, bei der WSH die geänderten Öffnungszeiten hinterlegen, neue Schichtpläne für die Mitarbeiter anfertigen (da die einzelnen Schichten nun verkürzt werden)…ein kleiner Auszug! An Weihnachtsruhe oder Zeit für die Kinder ist hier gar nicht mehr zu denken!
Dies sind die Gründe warum ich auch weiterhin die Spaziergänger unterstützen werde. Ich brauche -wie viele Menschen- eine Plattform für meine unerträgliche Situation. Ich sehe leider keine Möglichkeit, meine Situation anders darzustellen und auf die Probleme hinzuweisen. Ich fühle mich verantwortlich für meine Familie und für die zehn Familien meiner Mitarbeiter.
„Solidarität bezeichnet vor allem als Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens ein Gefühl von Individuen und Gruppen, zusammenzugehören. Dies äußert sich in gegenseitiger Hilfe und dem Eintreten füreinander.
Solidarität kann sich von einer familiären Kleingruppe bis zu Staaten und Staatsgemeinschaften erstrecken.“
Das ist die Definition nach Wikipedia. Sie verlangen Solidarität von mir!
Die gegenseitige Hilfe und das Eintreten füreinander kann ich im Moment nicht erkennen. Den von den Maßnahmen betroffenen Menschen wird nicht in ausreichendem Maße geholfen. Die Lasten sind hier ungleich verteilt.
Auf wie viel Wohlstand, Gehalt, Rücklagen haben Sie in den letzten zwei Jahren verzichtet? Aus Solidarität? Wer tritt denn öffentlich für die Anliegen der Selbstständigen ein? Wer repräsentiert meine Mitarbeiter? Was ist von unserem Wirtschaftsminister zu hören? Der Gesundheitsminister ignoriert die Suizidversuche und spricht davon, dass die Pandemie noch seine ganze Legislaturperiode andauert! Welche Perspektive wird den Menschen in diesen Branchen geboten?
Die meisten Unternehmer und deren gesamte Familie, auch die Kinder, haben den Großteil ihrer Lebenszeit für den Aufbau ihrer Betriebe verwendet und damit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsbetrieben beigetragen.
Gerade diese Menschen, haben doch immer in einem besonderen Maße „Verantwortung“ in unserer Gesellschaft übernommen. Als gute und langjährige Arbeitgeber!
Ich kann nur nochmals wiederholen…auch in der Pandemie leisten viele Branchen, durch die kostenlose Testmöglichkeit ihrer Kunden - dies von ihnen selbst finanziert - einen wertvollen Beitrag!
Und werden nun -wenn der Umsatzrückgang nur 20% beträgt- noch bestraft, von der Förderung ausgeschlossen oder mit Almosen abgespeist!
Nehmen Sie sich die Zeit. Gehen Sie durch Singen. Starten Sie wie die Spaziergänger am Rathaus. Laufen Sie zur August-Ruf-Strasse, durch die Nebenstrassen, die Scheffelstrasse…einfach den Weg der Spaziergänger.
Vor jedem Einzelhandel, jedem Gastronomiebetrieb, jedem Dienstleister bleiben Sie stehen und fragen sich wie viele Menschen arbeiten dort? Wie viele Angestellte werden davon weiter beschäftigt werden können, wie viele fleißige Unternehmer verlieren gerade ihr Lebenswerk, wie viele Kinder sehen Ihre Eltern aus Verzweiflung weinen, weil sie nicht mehr wissen, wie sie die Steuern oder die Fixkosten noch bezahlen sollen?
Wenn wir nicht eine andere Lösung finden als Lockdown, Teillockdown oder Lockdown durch die Hintertür und diese finanziellen Schäden, endlich – nach 24 Monaten- nicht ordentlich ausgeglichen werden, durch den Staat, wer soll denn noch übrigbleiben?
Wenn all diese Menschen, die in der Innenstadt von Singen arbeiten, mit Ihren Familien am kommenden Montag zum Spaziergang gehen, wäre es vielleicht immer noch eine Minderheit. Diese zu ignorieren wäre aber illegal (Grundgesetz).
Sollte Sie dieser Spaziergang dann zum Nachdenken anregen, stelle Sie sich die Fragen: Wie oft wurde das in den politischen Gremien ausreichend thematisiert, wer von meinen Parteikollegen, in den Gremien, hat diesbezüglich eigene Erfahrungen (kein Einkommen, Wohlstandsverlust, Altersvorsorge aufgebraucht, Existenzangst), wer vertritt die Interessen dieser Mitbürger, gibt es dazu wissenschaftliche Studien, wurde das auch in einer Form modelliert, wie und wo wurden unsere Ergebnisse dazu kommuniziert (hier wäre ich an Quellen sehr interessiert)? Haben wir eventuell eine Teilschuld daran, dass sich dieser Teil der Gesellschaft von der Solidaritäts-gemeinschaft ausgeschlossen fühlt und deshalb jetzt auf die Strasse geht?
Gerne können Sie mir auch Vorschläge machen, wie ich auf meine Situation aufmerksam machen kann. Ich bin kein Coronaleugner, kein Nazi, kein Impfgegner… aber Ihre Definition von Solidarität ist mir zu einseitig! Die Politik blendet diese große Not „vermutlich“ bewusst aus….(mein Empfinden).
Für mich geht es um meine Existenz und um die Zukunft meiner Kinder!
Die „Spaziergänge“ sind Ausdruck der Verzweiflung! Nicht alle durchleben die Pandemie bei „monatlich gleichbleibender Gehaltszahlung“!
Bei vielen Demonstrationen, auch bei Demonstrationen am 1. Mai, gibt es „übergriffliche Personen“, die diese Situation ausnutzen. Deshalb das Anliegen komplett in Frage zu stellen, hat wirklich nichts mit Demokratie zu tun.
Außerdem gab es bei den Montagsspaziergängen in Singen, noch keine Ausschreitungen dieser Art!
Ich freue mich auf Vorschläge, wie ich demokratisch meine Meinung äußern kann und Resonanz erhalte! So lange Sie mir keine Vorschläge unterbreiten können und ich meinem „unternehmerischen Schicksal“ überlassen werde, werde ich weiterhin mit den Spaziergänger solidarisch (mit Maske und Sicherheitsabstand) sein!
Ich bin sehr gespannt, welche Vorschläge sie mir unterbreiten.«

Stefan Miedler, Öhningen

Autor:

Ute Mucha aus Moos

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