Liebe Leserinnen und Leser,

es gibt einen Spruch, der heißt so ungefähr: Beurteile nie einen Menschen, wenn du nicht in seinen Mokassins gelaufen bist.

Gerald Hüther ist Neurobiologe und Hirnforscher und sicherlich ein streitbarer Geist. Wie bei jedem Forschenden spielt auch bei ihm das Menschenbild, vor dessen Hintergrund er arbeitet und veröffentlicht, eine Rolle. In einem Post auf Social Media, was auf vielen Kanälen wie Linkedin etc. herumgereicht wurde, oft ohne Quellenangabe, versuchte er Ungeimpften und Geimpften etwas zu vermitteln.

Spannenderweise, ein Hirnforscher muss so etwas ja wissen, regte er dazu an, sein Bild auszudrucken und es in den einen oder anderen Briefkasten zu werfen. Achtung Werbeblock: So ein Hirnforscher muss wissen, wie Botschaften ankommen: In den Briefkasten werfen …

Das wollen wir jetzt mit der Kernbotschaft gleich in über 86.000 Briefkästen erledigen: »Liebe Ungeimpfte, vielleicht ist ein Mitmensch geimpft, weil sie/er jemand wegen Corona verloren hat, sie/er seine Liebsten schützen möchte, sie/er Angst vor Corona hat, sie/er sonst seinen Job verloren hätte, sie/er wieder in ein halbwegs normales Leben zurück möchte.«

Die Geimpften spricht er wie folgt an: »Liebe Geimpfte, vielleicht ist ein Mitmensch ungeimpft, weil sie/er aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden kann? Sie/er Angst vor den Nebenwirkungen hat? Sie/er vielleicht jemand wegen den Nebenwirkungen verloren hat? Sie/er sich lieber auf anderem Wege schützt durch Tests und Abstandsregelungen? Sie/er durch den zunehmenden gesellschaftlichen Druck misstrauisch ist?«
Die Kernbotschaft folgt auf dem Fuße: »Hört auf, euch gegenseitig als Schlafschafe, Coronajünger, Verschwörungstheoretiker oder Querdenker zu beschimpfen.«

Und dann?

Dann kam die Resonanz in den Kommentaren zu seinem Post, 1.200 Kommentare, viele von ihnen menschenverachtend. Dergestalt, dass Hüther sich freundlich in eine Social-Mediapause verabschiedete. »Mir fehlen die Worte« waren seine Abschiedsworte vor seiner Sendepause in Zuckerbergs schöner Welt. Man könnte jetzt sagen: Hüther hat sich zwischen alle Stühle gesetzt, selbst schuld.

Aber es darf auch die Frage erlaubt sein: Wo sind wir eigentlich angekommen? Zum einen in einer Welt, in der Emotionen nicht nur durch Zuckerbergs Algorithmen künstlich verstärkt werden, um mit diesem zynischen Geschäftsmodell letztlich Daten zu sammeln und Macht und Geld zu horten.

Zum anderen in einer Welt, in der die derzeitige Coronapolitik einen psychologischen Architekturfehler hat: Man erwartet von den Massen intelligente Entscheidungen oder noch besser, dass freiwillig getan wird, was die Regierung gerne hätte. Das Werkzeug aus Berlin und Stuttgart heißt: Die einen nicht mehr am Leben teilnehmen zu lassen und den Druck immer weiter zu erhöhen, aber immer wieder sagen: »Es ist freiwillig, sich zu impfen.« Das mag aus gesundheitlicher Sicht angehen, aus gesellschaftlicher Sicht ist es dumm: Stigmatisierung statt klare Führung. Die Öffentlichkeitsarbeit für diesen unprofessionellen Stil wird an die Bevölkerung abgetreten. Das Ergebnis dieser aus Führungssicht völligen Verantwortungslosigkeit ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft.

Und wenn man schon nicht zur Impfung verpflichten will, dann hätte man wenigstens denen, die sich eigentlich impfen lassen würden, aber den bisherigen Covid-Impfstoffen misstrauen, zuhören können. Wenn man zuhören würde, wüsste man, wie wichtig es vielen von den Nichtgeimpften wäre, sich mit einem Totimpfstoff impfen lassen zu dürfen. Mutige Schätzung des Verfassers: man würde 30 bis 40 Prozent der noch nicht Geimpften erreichen.

Klar, dass auf der anderen Seite eine zigfach höhere Inzidenz bei den Ungeimpften zu Buche schlägt als bei den Geimpften. Aber wenn man es den Menschen überlässt, selbst zu entscheiden, wie sie mit dem Virus umgehen, dann überlässt man es eben den Menschen. Oder: Liebe Politiker und sonstige Verantwortliche: Wer nicht entscheidet, für den wird entschieden.

Insofern kann der Aufruf von Gerald Hüther als Schadensbegrenzung und Appell an die Mitmenschlichkeit gesehen werden, auch wenn Hüther dafür viel Prügel bezogen hat.

Wie beenden wir nun diese Zeilen?

Vielleicht so: Lassen Sie uns versuchen, uns selbst (ja, auch das braucht es gerade manchmal) und unsere Mitmenschen zumindest ein bisschen zu verstehen. Wir werden uns noch gegenseitig brauchen, davon sind wir überzeugt.

Gute Woche!

Carmen Frese, Verlegerin
Anatol Hennig, Herausgeber
Oliver Fiedler, Chefredakteur
und das gesamte Wochenblattteam

Autor:

Redaktion aus Singen

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