1954 Jahre nach Christus
Die Fußballweltmeister und das "Wirtschaftswunder"

3:2 für Deutschland! « Mit diesen Worten übermittelte Radioreporter Herbert Zimmermann der (west-)deutschen Nation die entscheidende Szene des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz.

Der Außenseiter Bundesrepublik Deutschland schlug im Berner Wankdorf-Stadion die seit Jahren unbesiegten Ungarn nach einem frühen 0:2-Rückstand 3:2. Noch in der Vorrunde fegten die Ungarn denselben Gegner in Basel mit 8:3 vom Platz! Das "8. Weltwunder" war geschehen, wußte die Illustrierte »Quick« im Jahr 1954. Das Deutsche Fußball-Toto, Hafen der Barfuß-Prognostiker fachlich ausgewiesen, dementierte den Wunder-Glauben. In einem Inserat im "Spiegel", zwei Monate nach der Fußball- Weltmeisterschaft, verriet Toto das »ganzes Geheimnis des deutschen Fußballwunders: es ist letztlich gar kein Wunder, sondern das Resultat gesunden Unternehmer-Geistes, uneigennütziger Arbeit, sportlicher Leistungskraft und ehrlicher Begeisterung die Sache des Sports«. Dieser 'Unternehmer-Geist', vor allem aber die 'uneigennützige Arbeit' machten das "Wirtschaftswunder" möglich. Unter »Wirtschaftswunder« verstehen wir die historisch einmalige Phase, in der das reale Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung jährlich um mehr als 5 Prozent wuchs. Dies war in den ersten fünfzehn Jahren der Bundesrepublik der Fall. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser spricht wir von den "langen fünfziger Jahren", die von 1949 bis zur ersten großen Krise der Bundesrepublik 1966/67 dauerten.

Die uneigennützige Arbeit der sportlichen Gipfelstürmer mündete in einem Triumphzug, den die deutsche Bevölkerung der Fußballweltmeisterelf bereitete. Am 5. Juli 1954 schickte die Bundesbahn einen Sondertriebwagen. In Spiez bei Bern ging die Fahrt los. Sie führte über Schaffhausen und Singen nach Konstanz, dann den Bodensee entlang nach Lindau, von dort durch das Allgäu nach München. Der Triumphzug der Fußballweltmeisterschaft 1954 brachte in zwei Tagen mindestens 1 Million Menschen auf die Beine, und das im vergleichsweise dünn besiedelten Süddeutschland. Er ist in seiner Massenmobilisierung nur mit dem Bauernkrieg 1524/ 25 zu vergleichen. Im Alltag des westdeutschen Volkes ist dies der zweite große Meilenstein. Im kollektiven Bildungsroman der westdeutschen Nachkriegsgeschichte ragt als erstes großes Datum die Währungsreform vom 20, Juni 1948, als die Schaufenster wieder voll wurden. Die Fußballweltmeister 1954 und der Triumphzug förderte die Imagination, die Vorstellung des Wirtschaftswunders.

Mit Disziplin, Bescheidenheit und Kameradschaft waren die elf Männer zu ihrem Ziel gelangt. Auf dem Triumphzug erhielten sie die Grundausstattung des »Wirtschaftswunders« Motorroller, Kühlschränke, Fernsehgeräte, Maggiprodukte... Wer lang ausharrt, bescheiden und kameradschaftlich ist, kommt irgendwann einmal zu seinem materiellen Glück. In der Kameradschaft waren alle, die anpacken wollten, eingeschlossen. Der geschäftige Blick nach vorne regierte. Die Rückkehr der Fußballweltmeister, das "Finale Grande 1954", war die Imagination des Wirtschaftswunders. Beim Triumphzug der Fußballweltmeister 1954 herrschte in Jestetten Aufregung. In der kleinen deutschen Enklave im Schaffhauser Gebiet sollte der Diesel-Sonderzug mit den Weltmeistern ohne anzuhalten durchfahren! Die Mitglieder von Vereinen holten ihre Fahnen. Immer lauter wurde die Frage, ob der Zug denn nicht doch anhalten würde? Der Bahnbeamte, Konrad Jenny, telefonierte nach Zürich: »Kein Halt« war die Antwort, weil in Singen ein Empfang vorbereitet werde und der Zug deshalb keinesfalls Verspätung haben dürfe. Plötzlich tauchte eine Gruppe von Leuten unter Führung von Leo Straub vom Sportverein Jestetten auf:

Er sagte: »Wenn der Zug nicht hält, setzen wir uns aufs Bahngleis.« In Deutschland kam der Zug zunächst durch Gottmadingen. Die "Schaffhauser Nachrichten" schrieben am 6. Juli 1954: »Musikkorps auf dem Bahnhof, Fahnen, Blumen. Die Belegschaft der Fahr-Werke stellte an die zwanzig Traktoren auf; alle hornten bei der Durchfahrt des Zuges. Fahren wir nach Singen weiter. Hier hatten Stadtgärtnerei und Bauamt sorgfältig den Empfang vorbereitet. Zierbäumchen und Rednerpult waren dann allerdings die einzigen, die von der Rede von Oberbürgermeister Theopont Diez etwas mitbekamen, Er sprach zwar ins Mikrofon, keiner hörte ihm zu. Die »Schaffhauser Nachrichten" beobachteten: »Herr Oberbürgermeister Diez versuchte im Lärm der riesigen Volksmasse, die über die Perrons hinaus bis auf den Bahnhofsplatz reichte, eine Ansprache zu halten. Sie ging aber im Begeisterungssturm unter«. Obwohl erst am Vormittag die Durchfahrt der Weltmeister bekannt wurde, kamen, so der "Schwarzwälder Bote", 25.000 Menschen am Singener Bahnhof zusammen. Die Stadt hatte damals 25.400 Einwohner. Bei der Stadtmusik hatte man lange überlegt, ob man die Nationalhymne oder einen Marsch spielen sollte.

Info:
»Aus dem Hintergrund kommt Rahn. Rahn müßte schießen. Rahn schießt. Tor! Tor! Tor! Tor!»

Doch es kam alles anders. Der Zug versinkt in einem »Orkan der Begeisterung«, schrieb der "Schwarzwälder Bote". Die Stadtmusiker haben die Noten der Nationalhymne aufgesteckt, können in dem Gedränge aber kaum die Arme bewegen, noch weniger die Noten . So lief das in Kempten und in Immenstadt, in Landsberg und in Buchloe ab. Offizielle Empfänge sind vorbereitet - keiner hört zu. Zurück an den Singener Bahnhof: Die Jugendlichen springen von den Bahnsteigdächern auf den stehenden Zug. Eine riesige Torte, die Eugen Graf von der Konditorei Graf mitgebracht hat, wird mit Mühe in den Zug hineingereicht. »Kleider machen Leute« - dieses Motto bewahrheitet sich für zwei Steißlingerinnen und einen Steißlinger. In Steißlingen feierte der Gesangverein über das Wochenende sein 50jähriges Bestehen. 24 Ehrenjungfrauen verliehen dem Ereignis seinen Glanz. Der Festdamenführer, Roman Kuppel, verfügte als Fuhrunternehmer über einen fahrbaren Untersatz. Da kam ihm die Idee, zusammen mit zwei der Ehrenjungfrauen an den Singener Bahnhof zu fahren, um mit den beiden Auserwählten der Weltmeister-Elf zu huldigen. Und siehe da: Der festliche Schmuck der beiden eröffnete ihnen und dem Festdamenführer einen Weg zum roten Sondertriebwagen, wo sie ihre prachtvollen Rosensträuße den Spielern überreichen durften. Noch größeren Erfolg auf dem Bahnsteig hatte eine Delegation der Maggi-Werke, laut "Südkurier" eine Gruppe von »Mädchen ... in ihren blütenweißen Arbeitskleidern«.

In München, am Ende des Triumphzuges, trägt Oberbürgermeister Thomas Wimmer eine rote Nelke im Knopfloch seines grauen Anzugs. Vor dem großen Gobelin im kleinen Rathaussaal will er die Zeremonie beginnen: »Fang ma o.« Am Abend hatte der Löwenbräukeller 12 Schweine, 10 Kälber und einige Rinder schlachten lassen. 40.000 Liter Münchner Bier waren in Fässern herangerollt Nach dem Triumphzug hatte Hans Glas die Spieler noch nach Dingolfing gelockt. Dort standen seine Goggomobil-Werke. Zwar kamen die Spieler wegen eines Verkehrsstaus eine Stunde zu spät an, doch im Fußballstadion herrschte eine prächtige Stimmung. Auf dem Podium standen 12 grüne Goggomobil-Motorroller in der Luxus-Ausführung - für die Spieler und ihren Trainer. Keine Zeit zum Streiken: die Bundesrepublik wurde technisch mobil. Der Bestand an Personenwagen wuchs von 0,52 Millionen 1950 auf 4,1 Millionen 1960. Ein Motorrad besaßen 1950 eine knappe Million, 1955 waren es schon mehr als 2 Millionen. Dann fuhren weniger Leute Motorrad: 1960 bewegten sich nur noch 1, 5 Millionen auf zwei Rädern.

Das war die Zeit der Goggomobile. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaft schätzte 1954, daß 1963 2, 9 Millionen PKW in Westdeutschland fahren würden. Das sind 58 auf 1.000 Einwohner. 1963 gab es aber 6, 8 Millionen, 135 auf 1.000 Einwohner! Zum trauten Heim gehörte der vierrädrige Glücksbringer dazu. Dazu muß das Auto in den Vorstellungen, in der Imagination durchgesetzt werden. Die Fußballweltmeister waren willkommene Pioniere der Mobilität.

Alfred Frei

Autor:

Redaktion aus Singen

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