1945 Jahre nach Christus III
Der April 1945: Zusammenbruch und Besatzung
Als die Franzosen bereits über Offenburg hinaus weit nach Süden vorgedrungen waren, war am 20. April die letzte Rede des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels in vielen Zeitungen abgedruckt: »Deutschland wird nach diesem Kriege in wenigen Jahren aufblühen wie nie zuvor«, versprach er. Und: »Setzen die Feindmächte Ihren Willen durch, die Menschheit würde in einem Meer von Blut und Tränen versinken.«
Der westliche Teil von Deutschland sollte später wirklich aufblühen, nur eben mit dem Willen der »Feindesmächte.« Der totale Krieg nahm 1944 die Menschen an die Kandare wie sie es schon lange nicht mehr seit Beginn der Industrialisierung erlebt hatten: Bei Georg Fischer in Singen mussten die Arbeiter im Jahr 1944 57 Stunden wöchentlich (1940: 49 Stunden) arbeiten, 9900 Tonnen Heeresgeräte wurden 1944 bei GF für Hitlers »totalen Krieg« gegossen. Doch das steife Konstrukt aus gutgläubiger Emsigkeit und wendehälsiger Propaganda bekam Löcher: Die Menschen hatten 1944 in der Region nur noch rund 1400 Kalorien pro Tag zur Verfügung, satt machte das nicht mehr. In Singen wurden die Winterferien verlängert, weil es zu wenig Kohle gab. Elektrische Heiz- und Kochgeräte durften nicht mehr verwendet werden, seit bei einem Luftangriff an Weihnachten 1944 das Elektrizitätswerk beschädigt war.
Es brachen die Transportsysteme zusammen: Weder Alu noch Maggi konnten noch alle Waren versenden. Lücken, die in den Firmen durch den Militärdienst entstanden sind, wurden in Singen mit Schülern aufgeteilt, die teilweise 48 Stunden in der Woche arbeiteten. Es nahte die Stunde Null: Die Losung war unmissverständlich - befolgt wurde sie fast nirgends: Von der Radolfzeller SS-Kaserne hieß es, dass die Bevölkerung die Orte zu verteidigen habe. In Singen flohen viele Menschen über Ramsen in die Schweiz, wo sie von den Grenzern zumeist nicht aufgehalten wurden.
Die Franzosen zogen am 24. April über Duchtlingen in die Hohentwiel-Stadt. Das Singener Wahrzeichen wurde mit Artillerie beschossen, wohl weil man wusste, dass sich manche, derer man habhaft werden wollte, in den Weinbergen und Wäldern versteckten. Die Franzosen sind schon da, als SS-Angehörige den stellvertretenden Singener Bürgermeister Bäder nahe der Alu aufhängen und Pfarrer Adolf Engesser möglicherweise umbringen wollten. 52 Zivilpersonen waren in den Monaten zuvor in Singen durch Fliegerangriffe zu Tode gekommen. In Stockach, wo die ersten Bomben im Februar 1945 20 Menschen töteten, kamen die Franzosen zum ersten Mal am 21. April 1945 an, verließen die Stadt aber wieder bis auf einen kleinen Trupp.
Info:
Die Stunde null dauerte keine Stunde, sie dauerte fast ein ganzes Jahr: Bereits am 12. September 1944 war Deutschland von den Amerikanern, den Russen und den Briten in drei Besatzungszonen aufgeteilt, zu einer Zeit also, in der das Dritte Reich auch den Menschen hier noch als ein für die Ewigkeit geschaffenes Reich verkauft wurde: »Das Reich verfügt über alle Machtmittel, die ihm den Endsieg verbürgen können«, hieß es in einer in allen badischen Zeitungen erschienenen Tageslosung an genau jenem 12. September, an dem die späteren Siegermächte die besiegte Nation aufgeteilt hatten.Dies nutzte die SS aus Radolfzell unter dem Oberbefehl von General Hans Schmid aus: Rund 100 SS-Männer kamen durch Stockach, brachten dort rund 15 Fremdarbeiter um und wollten wohl über Konstanz in die Schweiz fliehen. Die Franzosen kamen am 24. April zurück, dieses Mal blieben sie - und fanden die Leichen der Fremdarbeiter. In Engen hatte sich die Radolfzeller SS in Altdorf verschanzt und es wird der damals 33jährigen Vera Backmund zugeschrieben, dass Engen nicht von den Franzosen überrannt wurde: Sie führte wohl eigenständig Übernahmeverhandlungen mit den Franzosen. In Tengen verschanzten sich Beamte des badischen Innenministeriums aus Karlsruhe, am 7. Mai wurden die meisten verhaftet. Radolfzell fiel am 25. April nach einem Artilleriegefecht zwischen Franzosen und Deutschen. Konstanz wurde am 28. Juli eingenommen. Die Stunde Null in den Kommunen der Region, sie war nicht zuletzt eine Stunde Null der Geistlichen: Fast überall waren es Pfarrer, die zumindest mit dafür verantwortlich waren, dass die Städte und Gemeinden kampflos an die Franzosen übergeben wurden, die weißen Fahnen rechtzeitig wehten. In Aach die Ausnahme: Dort öffnete der Ortsgruppenleiter der NSDAP den Franzosen selbst die Panzersperre.
Geschichten wie die von Kaugummi und Schokolade verteilenden amerikanischen Soldaten durfte die Region nicht erleben. Es war fast zwangsläufig, wenn man bedenkt, welche Entbehrungen Frankreich Hitlers Krieg gekostet hat: Ohne Pein für die Zivilbevölkerung ging die Besetzung der Region nicht vor sich. Plünderungen waren an der Tagesordnung, auch von Vergewaltigungen durch französische Soldaten ist in einzelnen Chroniken die Rede. Am 8. Mai kapituliert Deutschland, nicht nur Hitler, sondern auch viele weitere aktiv am gewaligsten Schreckenssystem der Geschichte Beteiligte haben sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen - auch Führungskräfte aus der Region wählten diesen Weg. Der Krieg war verloren, der Hunger war groß, die Zukunft ungewiss, das Grenzgebiet zur Schweiz kurz nach der Besetzung zur »Zone interdite« erklärt, evakuiert, ohne Passierschein nicht betretbar. Überall setzten die Franzosen zunächst Interims-Bürgermeister ein, später wurden Landräte und Bürgermeister fest installiert. Das war in den meisten Regionen der große politische Schnitt, der im Mikrokosmos Stadt oder Gemeinde nicht einfach durchzustehen war. In mehreren Unternehmen wurde nach Nazi-Verbrechen und -Verbrechern gesucht. Fündig wurden die Franzosen zum Beispiel bei Allweiler, in anderen Betrieben gingen die Besatzer Kompromisse ein.
Der Hunger: Bereits im Mai wurden Schülerspeisungen organisiert. Und von der Schweiz, so schwierig die Rolle des Nachbarn im Krieg war, kam jetzt Hilfe, die manchen, die sie während des Dritten Reiches gebraucht hätten, versagt blieb: Die Radolfzeller bekamen Unterstützung aus ihrer heutigen Partnergemeinde Amriswil, die Singener aus Schaffhausen. 1946 gab es für Radolfzeller Kinder sogar Kinderferien in Amriswil. Stichtag 2. Juni 1945: Das Mitteilungsblatt der Alliierten an die deutsche Bevölkerung schrieb, dass die französische Militärregierung in Singen die Genehmigung zur Wiederinbetriebnahme der Suppenwürfelfabrik Maggi gegegeben habe. Schiesser in Radolfzell kam schnell wieder in Gang, produzierte zunächst aus dem, was vorhanden war: Bastschuhe und Holzpuppen statt Unterwäsche waren nach Kriegsende angesagt. Die Fitting konnte weiterproduzieren, weil sie über die die nahe Schweiz Energie bezog. Das Leben bekommt die Region wieder fest in den Griff.
Anatol Hennig
Autor:Redaktion aus Singen |
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