20 Stunden für den guten Zweck unterwegs
So weit die Füße tragen
Es ist noch dunkel als ich am 1. September 2020 das Haus für einen Spendenlauf verlasse. Das Geld soll einem Kinderprojekt in Bosnien zugutekommen. Mein Orthopäde war entsetzt über den Plan 24 Stunden durch den Hegau zu wandern. Auch ich hatte Zweifel, ob ich es schaffen würde. Aber aus Bosnien hatten mich Hilferufe erreicht. Durch die Pandemie war die Arbeit schwieriger geworden – und teurer. Jede Spende ist willkommen.
Also mache ich mich auf den Weg. Im Morgennebel sehe ich Rehe und kurz vor Randegg Fuchs und Hase, die sich „Guten Morgen“ sagen. Der Sonnenaufgang malt den Himmel in zarten Farben. Als ich Richtung Rielasingen laufe, schieben sich dunkle Wolken über den Horizont. Die machen mir jedoch weniger Sorgen als die beiden Gänse, die mich schnatternd und schnappend in Worblingen verfolgen. Ich entkomme um Haaresbreite und genieße den Wanderweg über die Höri entlang der Aach. Inzwischen ist der Himmel hinter mir pechschwarz. Gerade noch so erreiche ich einen Unterstand und bereue, dass ich mich für die bequemen Joggingschuhe entschieden habe, die nicht wasserfest sind. Als ich mit nassen Socken im Naturschutzgebiet an der Aachmündung ankomme, beneide ich die Enten. Die sind auch mit nassen Füßen putzmunter. Im Gegensatz zu mir. In Radolfzell erwischt mich der nächste Sturzregen. Aber nach über 40 Kilometern erlebe ich nun das, was Jogger als „Runners High“ kennen. Ein euphorisierender Hormonmix lässt mich Richtung Schiener Berg schweben.
Natürlich verlaufe ich mich: Mit meinem hormonell vernebelten Hirn lande ich statt auf dem Wanderweg auf der völlig verschlammten Downhillstrecke. Es wird dunkel, aber die Endorphine wirken immer noch. Meine Laune ist bestens. Hinter Schienen begleitet mich eine Fledermaus, die hektisch im Strahl meiner Stirnlampe flattert, durch den stockdunklen Wald. Am Öhninger Zoll wartet mein Mann und nimmt meine Hand. Erst jetzt spüre ich die Blasen an den Füßen. Trotzig will ich weiterlaufen, aber als ich in Hemishofen unser Auto sehe, weiß ich, was die wirklichen Versuchungen im Leben sind. Ein paar Stunden Schlaf und dann geht es am nächsten Morgen weiter. Das Ziel habe ich mit „nur“ 20 Stunden und 70 Kilometern leicht verfehlt, bin aber trotzdem stolz.
Vor über zwanzig Jahren lebte ich auf dem Balkan. Als wir im kriegszerstörten Bosnien mit Mentoring und Suchtprävention begannen, waren wir absolute Pioniere. Auch die Entwicklung dieser Projekte war eine Art Marathonlauf – nie hätte ich gedacht, dass ich so lange dran bleiben würde. Aber genauso wie die von uns betreuten Kinder erwachsen wurden, sind es inzwischen auch die Projekte. Aus dem Verein wurde eine finanziell selbstständige Stiftung. So war der „Megamarsch“ mein letzter Spendenlauf. Der Platz reicht nicht, um all die Begegnungen zu schildern, die ich an diesem Tag hatte. Aber eins wurde mir klar: Nach vielen Jahren des Umherziehens als ewig heimwehkranke Kölnerin bin ich mit Blasen an den Füßen endlich wirklich angekommen in der Region, die mir schließlich Heimat wurde.
Portrait:
Name: Ulrike Blatter
Alter: 61 Jahre
Wohnort: Gottmadingen
Beruf: Ärztin und Autorin
Mich verbindet mit der Region: Ich verliebte mich während des Medizinstudiums in Köln in einen heimwehkranken Schwarzwälder. Ihm zuliebe zog ich in den Südwesten.
Was mich antreibt: Suchtprävention und interkulturelles Mentoring sind meine großen gesellschaftlichen Anliegen. Mein zweiter Beruf ist das Schreiben.
Der Ort:
Im September 2020 machte sich Ulrike Blatter auf zu einem Benefizlauf durch den Hegau.
Text: Ulrike Blatter
Autor:Redaktion aus Singen |
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