Erster Stolperstein in Gailingen
"Unaufdringlich und eindringlich zugleich"
Gailingen. Die Geschichte des Grenzortes Gailingen ist geprägt von seiner großen jüdischen Gemeinschaft im 19. Jahrhundert – und von deren Schwinden. Bis zum traurigen Höhepunkt am 22. Oktober 1940: An diesem Tag wurden die letzten 210 Personen jüdischen Glaubens deportiert. Unter ihnen befand sich auch Gretel Weil, in deren Andenken am heutigen Montagmittag der erste Stolperstein auf dem Gehsteig vor der Brühlstraße 1 verlegt wurde, dem Ort, an dem sie lange wohnte. Der Gründer des Projekts Stolpersteine, Gunter Demnig, nahm dabei die Verlegung vor.
Über Gretel Weil selbst sei jedoch recht wenig bekannt, wie Sarah Schwab als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Jüdischen Museums in Gailingen berichtete. Die junge Frau habe zwischenzeitlich in der Schweiz gelebt, ab 1927 bis zu ihrer Deportation in das Lager Gurs nach Frankreich 1940 sei sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Ende 1942 wurde sie über das Transit-KZ Drancy nach Auschwitz deportiert, als Todesdatum werde im Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden der 5. Dezember 1942 genannt. Ihre Familie lebte seit mehreren Generationen in Gailingen, sie hatte fünf Geschwister. „Die ganze Familie wurde durch die Nationalsozialisten verfolgt und zum größten Teil ermordet“, so das Ergebnis der Nachforschungen laut Schwab.
Ein Briefmarkensammler in Amerika
Angestoßen wurde die Verlegung des Stolpersteins letztlich hauptsächlich durch Stephan Breitkopf, einem begeisterten Briefmarkensammler aus Amerika. Dieser hatte 2022 Kontakt zur Gemeinde und der Stiftung hinter dem Projekt von Gunter Demnig aufgenommen, nachdem er die goldenen Gedenktafeln in verschiedenen deutschen Städten gesehen hatte. Neben der Frage, ob man einen Stolperstein in Gailingen verlegen könne, fanden sich im Anhang der E-Mail unter anderem Scans von Briefumschlägen aus den Jahren 1939 bis 1941, die Gretel Weil mit Sara Horn aus Brooklyn, New York, ausgetauscht hatte. Sara wiederum war die Nachbarin des jungen Stephen Breitkopf und gab diesem die Briefe, als er begann Briefmarken zu sammeln. Das daraufhin von ihm recherchierte Schicksal von Gretel Weil habe man laut Sarah Schwab im Verein für jüdische Geschichte ebenfalls dokumentiert: „Es ist für uns in Gailingen wertvoll, dass wir nun an Gretel Weil – und darüber hinaus an ihre Familiengeschichte – in Form eines Stolpersteins erinnern können.“
Nachdem das Verlegen von Stolpersteinen in der Gemeinde grundsätzlich gestattet wurde, war nun mit Stephan Breitkopf der erste Pate gefunden. Da es in Gailingen hierfür keinen Verein gebe, fehle es an Patenschaften, wie Bürgermeister Dr. Thomas Auer auf Nachfrage des WOCHENBLATTs erklärte. Doch auch so spielt die Erinnerungskultur dort eine wichtige Rolle: Neben dem jährlichen Gedenktag, dem Verein und dem Museum als Gedenkstätte sei man laut dem Vorsitzenden des jüdischen Vereins und Altbürgermeister Heinz Brennenstuhl nach wie vor eng verbunden mit den Nachfahren der jüdischen Gemeinschaft Gailingens in der Schweiz.
Unverhoffte Begegnung im Alltag
„Mit diesem ersten Stolperstein hier in Gailingen erlangt, ich glaube das so sagen zu dürfen, die Erinnerungskultur in unserer Gemeinde eine neue Qualität“, hebt Bürgermeister Dr. Thomas Auer vor der Verlegung hervor, denn diese gehöre zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit der Ortsgeschichte. Mit der kleinen, goldenen Tafel im Boden, die inzwischen über 90.000 Mal verlegt wurde, schaffe man einen Moment des Gedenkens, „unaufdringlich und eindringlich zugleich“, dem der Einzelne täglich begegnen könne. Noch dazu an einem Ort, „wo die Menschen leben und wo die Opfer, an die gedacht werden soll, gelebt haben.“ Aus den Nummern in den Konzentrationslagern würden so wieder Namen und Schicksale, das Bücken, um die Stolpersteine genauer betrachten zu können, sei dabei nicht zuletzt eine symbolische Verbeugung.
Autor:Anja Kurz aus Engen |
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