Stadtjugendring hätte DDR-Staat anerkennen müssen
Zug fuhr weder nach Pankow noch Dresden
Dresden gegen Singen wäre in den 60er Jahren kein Fußballspiel geworden. Der Poker um innerdeutsche Akzeptanz war eröffnet, wofür der Stadtjugendring Singen eine hochbrisante Einladung hatte. 25 Jahre nach dem Mauerfall werden Erinnerungen wach, zumal uns die Wiedervereinigung das Wissen um die wahren Hintergründe deutsch-deutscher Geschichte schenkte. Heute wissen wir, dass die SED in der DDR die Zuständigkeit für Jugendkontakte in den Westen aufgeteilt hatte. Der Bezirk Dresden war danach für Baden-Württemberg zuständig. So landete in Singen beim Stadtjugendring eine Einladung zu einem innerdeutschen Jugendaustausch. Der damalige Vorsitzende Heinz Schwalm war Leiter des evangelischen Gemeindedienstes im Wichernhaus und war ein Mann mit politischen Ambitionen. Neben den Vertretern der Jugendverbände sollten auch zwei Schüler des Gymnasiums mit nach Dresden reisen. Die Nachricht kam aus heiteren Himmel: Einer davon sollte ich sein!
Bis dahin war der Stadtjugendring ein völlig unbekanntes Wesen für mich gewesen, obwohl ich einige Teilnehmer beim ersten Zusammentreffen aus meinem schulischen Umfeld kannte. Das Projekt „Dresden“ wurde ambitioniert angegangen, obwohl das Programm für den ersten Besuch in Dresden völlig im Nebel lag. Eines schien sicher: Es werde vor Publikum eine öffentliche Diskussion dort geben, für die wir uns vorbereiten müssten. Das stachelte uns alle an und so wirkte ich engagiert mit. Aber ich war natürlich nur Gast, kannte weder Schriftstücke noch Telefonate. Und so fragte ich immer wieder nach, wann es endlich losgehe. Termine und Programm? Heinz Schwalm gab sich immer wieder bedeckt: Da müssten noch Fragen geklärt werden. Dann lag der Brief mit der Gretchenfrage auf dem Tisch: Der Stadtjugendring hätte die Existenz eines zweiten Staates anerkennen müssen. Aber damit war der innerdeutsche Zug ohne Singener Beteiligung abgefahren!
Doch das Thema war damit keineswegs vom Tisch. Durch das Projekt des Stadtjugendrings hatten sich Querverbindungen ergeben, so auch zum Kuratorium Unteilbares Deutschland mit dem in Wangen ansässigen Regional-Repräsentanten Dr. Franz Schürholz, einem Neffen des Bundesvorsitzenden Wilhelm-Wolfgang Schütz, der ebenso wie bereits Bundespräsident Heinrich Lübke 1964 zum 17. Juni den Festvortrag auf dem Hohentwiel auf Einladung des Kuratoriums hielt. Und so bildete sich ein Jugendkuratorium am Singener Gymnasium, das dann auch (zuerst beratendes) Mitglied im Stadtjugendring wurde. Zum Knüller wurde eine Ausstellung im Rathaus, die natürlich auch auf Vorarbeit für das Dresden-Projekt des Stadtjugendrings beruhte: „Kennst Du die DDR“. Wir hatten Daten zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben in beiden Teilen Deutschlands zusammengetragen und grafisch aufgearbeitet. „Wir“ das waren Volker und Siegfried Kauder federführend neben mir. 2500 Besucher sahen die Ausstellung, natürlich auch für uns ein Einstieg ins politische Leben. Das brachte für mich auch die kritische Nachfrage von Direktor Dr. Josef Götz, wo denn auf meinem Plakat (Linolschnitt) die Gänsefüßchen bei der DDR seien? Ja, die hatte ich in der Tat kunstvoll versteckt.
Offen war immer noch die Frage nach einer politischen Bildungsfahrt des Singener Stadtjugendrings. Aber die war nach der Besetzung der Stelle des Leiters des städtischen Jugendamts in den Hintergrund geraten. Der Vorstand war aus Protest zurückgetreten, FC-Jugendleiter Karl Trapp war als Interims-Vorsitzender und Konfliktbewältiger überfordert. Dann wollte Heinz Schwalm doch wieder. Aber das Wahlergebnis mit 15:10 Stimmen war ihm für eine Position der Stärke gegenüber der Stadt zu wenig. Er lehnte die Wahl ab. Jetzt stand der Stadtjugendring kurz vor der Auflösung. Der spätere Regionaldekan Fridolin Dutzi sprang noch einmal als Vorsitzender ein. Er akzeptierte 14:11 Stimmen. Ihm war zuvor aktive Hilfe versprochen worden. Neue stellvertretende Vorsitzende wurde Heidi Schäufele, neue Beisitzer Ewald Röthele und ich.
Nicht nach Dresden sondern nach Prag ging es im Jahr 1969 mit Fridolin Dutzi. Eine neue Führungsriege wurde zusammengeschweißt. Die politischen Fragen ähnlich: Bedeutet die Zerschlagung des Prager Frühlings das Ende der Suche nach einem dritten Weg? Die CSSR hatte gerade bei der Eishockey-WM gegen die UdSSR zweimal gewonnen. Die Spuren der Verwüstung danach waren am Wenzelsplatz noch zu sehen. Wir hatten die Pragfahrt gut vorbereitet. Wir wussten, dass Pfarrer und Studenten unerwünscht waren. Aber Dutzi war ja zum Glück Oberstudienrat! „In cognito“ blieb er nicht lange. Unsere örtliche Reiseleiterin führte ihn an Orte, wo er als Geistlicher gebraucht wurde. Im Keller unseres Hotels befand sich ein Tanzlokal. Da trafen wir uns abends irgendwann wieder – durch den Hintereingang. Der Osten war Thema des Stadtjugendrings geblieben, nachdem das Jugendamt den Austausch mit der ersten Partnerstadt La Ciotat zur eigenen Aufgabe erklärt hatte. Zwei Jahre später hatte ich die Nachfolge von Fridolin Dutzi angetreten. Das Reiseziel war länger schon geplant: Polen. Hier schloss sich der Kreis, denn nach dem Warschauer Vertrag waren wir eine der ersten offiziellen Jugendorganisationen, was wir durch mehrfache Aufbesserung des Programms auch zu spüren bekamen. Unser Ostersonntag in Auschwitz und Kattowitz führte zu einem unerwarteten „Upgrade“ in Posen mit Grandhotel und Opernbesuch. Und dann kam die Heimfahrt über die DDR und Westberlin. Daran musste ich am Wochenende denken. Während wir nämlich in Polen waren, hatten DDR und BRD neue Visavereinbarungen getroffen, von denen ich nichts wusste. Bei der Einreise marschierte ich mit allen Pässen zum Polit-Büro, in meinem war der Sammeltransit. Bei der Ausreise nach Mitternacht wurde ich in Drewitz zurückgewiesen: Alle müssten neue Formulare ausfüllen, die dann mit den Pässen im Bus kontrolliert würden. Der Vopo mir gegenüber war auf seine Kollegen in irgendwelchen Hinterräumen sauer: Sie würden saufen und ihn die ganze Arbeit allein machen lassen. Ich musste Nerven gehalten, denn jetzt kam der Hammer: Beim Einsammeln im Bus durch die Vopos hatte es einen weißen Zettel zu viel gegeben! Die Abfertigung dauerte zwei Stunden auf der sonst leeren Anlage in Drewitz. Ich hatte damals gerade eine Lehrstunde in DDR-Staatsrecht erhalten.
25 Jahre nach dem Mauerfall waren viele Debatten am Wochenende merkwürdig. Wer wollte plötzlich überhaupt darüber diskutieren, ob die DDR ein Unrechtsstaat war? Wollte da jemand einen Persil-Schein? Oder die armen IMs! Für wem sollte die Geschichte der DDR neu geschrieben werden?
Von Hans Paul Lichtwald
- Redaktion
Autor:Redaktion aus Singen |
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