Bildungspolitik und Kirche unter den Zwängen der Zahlen
Wenn die Arithmetik die Inhalte bestimmt

„Eure Rede sei ja, ja oder nein….“ So etwas könnte man in der Bibel lesen. Da geht es um die Klarheit und letztlich Wahrheit im Leben. „Könnte man“ oder „eher nicht“. Letzteres hört man heute öfter, wenn eigentlich eine klar gestellte Frage zu beantworten gewesen wäre. Schließlich sind wir auch in unserer Sprache beliebiger geworden. Wir legen und nicht gerne fest, denn sonst könnte uns durch eine Festlegung ein Event entgehen, was unsere Performance entscheidend verschlechtern könnte. Geprägt hat mich Erich Fromm mit seinem Standardwerk „Haben oder Sein“. Heute interpretiere ich die Aussagen neu, denn wir leben in einer Zeit, in der die Arithmetik in Inhalte in vielen Lebensbereichen bestimmt. Wir erleben geradezu einen Zwang der Zahlen, der inhaltliche Diskussionen lostreten lässt. Und wir merken nicht einmal, wie die Buchhalter die Linien von Politik und Gesellschaft bestimmen. Da sind plötzlich Zwänge vorhanden, die uns keine Alternativen beim Handeln angeblich lassen. Und der Suppentopf auf dem Tisch der Familie ist „alternativlos“, weil Muttis Haushaltskasse schlicht zum Monatsende leer ist. Doch die hungrigen Mäuler zerreißen sich schnell die selbigen, weil sie sich erinnern, dass der Vater vor zwei Tagen ein nagelneues Auto vor die Türe gestellt hat! Ja, wir müssen Aussagen, die als letzte Wahrheiten verkündet werden, sehr kritisch hinterfragen. Und uns selbst natürlich auch, denn wir finden es ganz bequem „pathologisch“ zu lernen. Wir haben unser Raster im Kopf und passen das, was wir wahrnehmen wollen, dem nur zu gerne an. Das gesellschaftspolitische Marketing zielt darauf ab, unser Denken im Kopf so hinzulenken, dass wir alles das auch glauben, was wir sollen. Nehmen wir die Bildungspolitik im Lande: Die Reformen und die Entwicklung zur Gemeinschaftsschule sind nicht nur in Rielasingen umstritten und als solches in die Sommerferien gegangen. Da kommt aus Stuttgart die Meldung, dass mehr Schüler denn je sitzen geblieben sind und die Eltern mehr auf die Grundschulempfehlung setzen sollen! Das Letztere ist grundsätzlich richtig. Ich habe einmal mit einer erfahrenen Kindergartenleiterin darüber gesprochen, was sich im Laufe ihres Berufslebens verändert hätte. Sie sagte: Die Mütter bringen heute die Kinder und wir sollen sie morgen abiturreif zurückgeben! Zahlen, Wunschträume und Emotionen treffen in der Bildungspolitik extrem aufeinander. Ein kluger Politiker sagte kürzlich, im Ländle hätte noch nie eine Partei eine Wahl mit einer Bildungsreform gewonnen. So zerplatzte einst der Traum von einer integrierten Gesamtschule. Viele befürchten, dass die jetzt in der Form der Gemeinschaftsschule quasi durch die Hintertüre aufgemotzt auf dem populistischen Gabentisch landet. Und immer wieder ist es eine neue Elterngeneration, die die ungelösten Fragen von gestern diskutiert. Sie wollen alle das Beste für ihre Kinder und vertiefen sich unendlich in die Materie, wofür sie sich alle Zeit dieser Welt nehmen. Dabei gehen sie oft den Politikern auf den Leim, die das einfache Problem verdecken wollen, dass die Zahlen, die Arithmetik ihnen eigentlich schon die Antworten diktiert. Ich habe mich aus schulpolitischen Diskussionen meist herausgehalten, weil man da nur Prügel beziehen kann. Hinterfragt man, ob an der Grundschulempfehlung politisch gespielt wurde, erlebte man nur ein entsetztes Nein! Lange Jahre wurde die Grundschule durch gezielte Zuweisungen gestützt. In einem konkreten Fall, den ich selber miterlebt habe, war die letzte zentrale Klassenarbeit vor der Grundschulempfehlung in Mathematik besonders schwer. Und damit kam das ganze Bewertungssystem in Bewegung. Sollte ein Kind mit dem ersten Mathematik-Vierer in seiner Schullaufbahn wirklich aufs Gymnasium gequält werden? Ergebnis: Sechs Schüler einer fünften Klasse einer Hauptschule rückten kurz darauf nach, einer sogar direkt zum Gymnasium. Sie mussten so lange in der Hauptschule bleiben, bis die Lehrerquote für das nächste Jahr gesichert war! Da geht es dann um die Frage nach der Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Kann man Zahlen trauen, wenn schon an deren Entstehung gedreht worden ist? Dazu das jährliche Theater um die Lehrerzuweisungen nach den Sommerferien. An Krankheitsvertretungen wird lange gespart. Oder doch „eher nicht“? Für Zahlen sorgt der jeweilige Kämmerer – meist mit Blick auf den (leeren) Geldbeutel. Ist das bei der katholischen Kirche anders? Denen fehlen nicht Lehrer sondern schlichtweg Pfarrer. Das Zusammenlegen von Pfarreien nennt man dann „ Aufbruch zum Umbruch“. Am Ausgangspunkt steht die Macht der Zahlen: Es werden immer weniger. Was nicht mehr nachgefragt wird, das braucht man eben auch nicht und lässt es sein. Wenn einer in der Schule seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, dann sagt der Lehrer auch nicht: „Dann lassen wir das mal. Das braucht man doch nicht!“ Im Zweifelsfall stellt er sich der inhaltlichen Diskussion. Am Ende heißt es schlicht: „Setzen 6!“ Da schließt sich der thematische Kreis. Wer zückt in einer Gesellschaft der Beliebigkeit schon gerne die „Rote Karte“? So wurden selbst bei der Fussball-WM böse Fouls lieber überhaupt nicht geahndet. Das war in England im 19. Jahrhundert während der Industriellen Revolution nicht anders. Kinderarbeit war damals wie heute in vielen Teilen Asiens der bitteren Armut geschuldet. Dazu gehörte auch Diebstahl durch Kinder. Auf Diebstahl gab es die Todesstrafe. Was machten viele Richter: Sie sahen einfach keinen Diebstahl als gegeben an! So sind die Zwänge der Fakten: Wenn Theorie und Praxis zu weit auseinander getrieben sind, ist etwas grundsätzlich falsch. Bei Erich Fromm geht es um Haben oder Sein. Vielleicht müssen wir alle unser Sein neu hinterfragen und danach in eine andere Zukunft blicken: Mit mehr Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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