CDU stand am Ende mit leeren Händen da
Vor 30 Jahren wackelte Singener Welt

Vor 30 Jahren war in Singen Wahljahr, erst ein neuer Bürgermeister und dann eben wieder Friedhelm Möhrle! Und am Ende stand die CDU mit leeren Händen da! Dabei waren alle hoffnungsvoll, denn ihr wurde das Vorschlagsrecht bei der Bürgermeisterwahl durch den Gemeinderat zugebilligt. Sechs Bewerber hatten in sich Frühsommer der Fraktion vorgestellt – höchstgeheim und vertraulich. Hoffnungsvolle (Nachwuchs-)Größen aus der Region waren angetreten. Aus dem Singener Rathaus kamen der Leiter des Bauamtes und der des Vermessungsamtes; aus Konstanz der heutige Landrat Frank Hämmerle. Und gewählt wurde im zweiten Wahlgang ein Unbekannter: Jurist Hans-Joachim Fuchtel aus Altensteig. Er hatte eine Stimme mehr als Rüdiger Neef bekommen. Und da fing der spätere Streit an: Haben nun alle Unterlegenen zugesagt, das Abstimmungsergebnis zu tolerieren? Doch erst schien alles klar: Fuchtel machte seine Runde durch die Fraktionen und hoffte auf eine dicke Mehrheit. Ich kannte Fuchtel aus dem Landesausschuss der Jungen Union als dynamischen Hoffnungsträger. Seine Euphorie dämpfte ich: Zustimmung habe man im Singener Gemeinderat erst, nachdem man gewählt ist! Hinter der vorgehaltenen Hand gab es die ersten Vorbehalte: Fuchtel gehe es nicht um Singen sondern nur um ein Sprungbrett für die weitere Karriere. Mein Eindruck war mit Blick auf die zu erwartende Dezernatsverteilung anders. Mit dem Krankenhaus und dem Sozialbereich würde Fuchtel einen Arbeitsbereich bekommen, der ihm zufrieden stelle.

Dann kam der 40. Geburtstag von Heiner Schmid, dem damaligen Redaktionschef des Singener Wochenblatts auf dem Friedinger Schlösschen. Ja, ich war zu früh mit meiner Frau heimgefahren. Dass hielt mir später Peter Hänssler mit einem hintergründigen Lächeln vor, denn sonst hätte ich den Schwur der sieben Gemeinderäte mitbekommen, doch Rüdiger Neef zum Bürgermeister zu wählen. Die wackeren Sieben waren jung, rot und grün und eben auch liberal. Und sie fanden ihre Mehrheit im Gemeinderat. „Wortbruch“ schallte es durch Singen. Das Vorschlagsrecht der CDU sei mißachtet! Jetzt müsse Fuchtel gegen Friedhelm Möhrle im Spätsommer bei der OB-Wahlantreten!

Fuchtel fragte mich nach meiner Einschätzung der Lage. Die Kandidatur hatte eine innere Logik für sich, denn hier ein Stück Frieden im Gemeinderat aufgekündigt worden. Aber: Fuchtel werde verlieren, müsse beim finanziellen Aufwand an seine Familie denken. Zudem dürfe eine Niederlage kein Karriereknick für ihn sein. Solche Konsequenzen seien nicht gering einzuschätzen unter Parteifreunden. Die Maschinerie lief an: Fuchtel flog mit Rudolf Lechner nach Klagenfurt zur Werbeagentur, die zuvor auch erfolgreich für Lothar Späth gearbeitet hatte. Zurück kam ein Fuchtel, der sich bis hin zum Text seiner offiziellen Kandidatenvorstellungsrede dem Diktat der Dame aus Klagenfurt unterworfen hatte! Der Mann im immer gleichen blauen Anzug mit Aktenköfferchen, verheiratet, Vater von vier Kindern, der seine ganze Kraft aus der heilen, intakten Familie schöpfte.

Der Wahlkampf lebte von Tiefschlägen – und natürlich von Leserbriefen. Ein Wahlkämpfer gab dem anderen die Klinke der Redaktionstür in die Hand, einen Rest von Schaum konnte vom Taschentuch nicht aus dem Mundwinkel weggewischt werden. Der Urlaubsplan sah in den Redaktionstuben natürlich keinen OB-Wahlkampf vor, so sollte mein „Schwabo“-Redaktionschef Herbert A. Baier erst zwei Wochen vor dem Wahltermin in den Dienst zurückkehren. Bis dahin hatte ich wahrlich „sturmfreie“ Bude! Dann die Ablösung und Befreiung. Im Urlaub machte ich nur noch die Kulturbeilage fertig. Auch die war geschafft! Dann kam Freitagabend der Anruf, der alles änderte: Herbert A. Baier hatte einen Schlaganfall im Büro erlitten. Ich fuhr gleich los und: „Ab in den Wahlkampf“! Ich musste die Samstagausgabe noch fertig machen. Und dabei kreiste alles um den einen Gedanken: Dieser Wahlkampf hatte das Ende eines beruflichen Lebens bewirkt! Der Druck auf Herbert A. Baier musste enorm gewesen sein, denn da erhoffte sich mancher noch etwas von dessen Rückkehr! Über meine Gedanken habe ich später auch nur mit einem Mann gesprochen: SPD-Fraktionschef Ekkehard Binkert. Doch der winkte ab: Das könne er sich nicht vorstellen.

Ich stellte mir jetzt die offizielle Kandidatenvorstellung vor. Der Bericht darüber musste am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Alles eine Frage des Ablaufs und des Andrucks in Oberndorf! Die Reden wurden auch in die Turnhalle des Hegau-Gymnasiums übertragen, anschließend sollte es eine offene Diskussion geben. Erst sollte Möhrle kommen, dann Herausforderer Fuchtel. Auf den Remstalrebell Palmer konnte ich dann verzichten. Erste Frage: Gab es die Reden schriftlich? Möhrle sagte „Nein“: Er werde frei sprechen, da fühle er sich wohler. Er könne mir nur anbieten, vorab seine Gedanken im Gespräch aufzuzeigen. Aber „kalt“ ohne direkten Eindruck von der Veranstaltung wollte ich auch nicht schreiben! Es gelang, den Andruck um eine halbe Stunde zu verschieben. Also konnte ich Möhrle noch live hören, nicht aber Fuchtel. Um späteren Verdächtigungen aus dem Weg zu gehen, bat ich darum, mir die Fuchtel-Rede nach Beginn der Veranstaltung in den Briefkasten zu werfen.

Nach Möhrles Auftritt war ich völlig irritiert beim Fußmarsch zum Büro: War das eine Verlierer-Rede? Wie reagiert der Wähler auf seine emotionale Ansprache? Dann Fuchtels Text im Briefkasten: Ohne konkrete Forderungen, alles weichgespült –ohne Inhalte. Die Werbedame aus Klagenfurt hatte am Nachmittag die Regie übernommen. Nein, so gewinnt man in Singen keine Wahlen. Jetzt fiel mein Artikel nicht mehr schwer. Später kehrte ich erleichtert zurück in die Aula.

Es war alles gekommen wie vorausgesagt: Möhrle war klarer Sieger, Fuchtel rückte später in den Bundestag nach, machte Karriere. Er hatte ja in Singen alles brav gemacht. Erst kümmerte er sich um Berufsfragen des Apothekerstandes, wurde Parlamentarischer Staatssekretär, ist heute Beraterin der Kanzlerin in Griechenlandfragen. Nur eines kann er nicht mehr sagen: „Ich schöpfe meine Kraft aus einer intakten Familie“. Er ist geschieden.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

2 folgen diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.