Die Welt der Fastnachtsnarrren kämpft um Verständnis
Vernichtung bei Nichtverstehen?

"Nach Charlie": Das närrische Rügerecht ist ein Kernstück unserer Brauchtumsfastnacht. Wie weit darf es gehen? Oder ist es gar durch die Reaktionen auf die Terror-Anschläge in Frankreich in Gefahr? Diese Fragen bewegen derzeit die Texter vieler anstehender Narrenspiele und Bunter Abende. Mancher hat schon erlebt, wie oft auch aus nichtigem Anlass Feuer unter dem Dach war. Die Waffen gestreckt hat kaum jemand. Narren sind sensible Menschen, sie rügen die Mächtigen dieser Welt, verletzen sie aber nicht!Scherz, Satire, Ironie oder tiefere Bedeutung? Narren spielen auf der mächtigen Tastatur des närrischen Flügels. Der Akteur auf der Bühne tastet sich an die „kritische Masse“ seiner närrischen Schelte heran. Er geht vielfach mit Samthandschuhen an seine Opfer in der Büttenrede heran. Wäscht da nicht eine Hand die andere? Wie oft habe ich moniert, dass für viele die Fastnacht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist! Da spielt sich „die politische Klasse“ plötzlich selbst. Wie ist das in Langenstein zum Beispiel? Da ist längst so mancher Bürgermeister zum geehrten Alefanz geworden. Alles unter dem Motto: Seid umschlungen Millionen! Alle haben sich furchtbar lieb.

Mich beunruhigt aktuell ein offenbar geänderter Umgang mit Satire: Heiß geliebt oder unverstanden war sie immer schon. Selbst auf der Narrenbühne fand sie manchmal Einzug, wenn Zyniker ihren Sarkasmus auspackten. Wer solche Ausflüge nicht verstanden hat, hat sie als Blödsinn abgetan und damit quasi „ad acta“ gelegt. Satire eine Spielwiese für Liebhaber bissigster Kritik? Eine Gegenwelt von Gesellschaftskritikern und intellektuellen Spinnern? Das hat sich in Paris geändert: Die durchaus politische Waffe des Geistes wird nun bei Nichtverstehen durch Vernichtungswaffen ausgelöscht!

Die Welt wird immer dann schwierig, wenn Menschen mit gewalttätigem Missionseifer unterwegs sind. Wir leben zwar ökologisch gesehen auf einer einzigen Erde, akzeptieren aber unterschiedliche Lebensentwürfe von Menschen, Gruppen und Völkern. Toleranz ist gleichsam zu unserem Lebenselexier unter den Leitgedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geworden. Toleranz eröffnet den Zugang zur Leichtigkeit des Seins. Aber genau dieser galt letztlich der terroristische Anschlag von Paris. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, die Bluttaten von Paris als Anschlag gegen die Pressefreiheit hochzustilisieren. Pervers wird es, wenn in Dresden die Demonstranten gegen eine „Lügenpresse“ plötzlich Trauer tragen. Nicht erträglich ist es, wenn sich der Vorstandsvorsitzende von BILD bei Günther Jauch zum Gralshüter der heeren Feder aufschwingt. Schwarze Seiten für „Je suis Charlie“ in den Gazetten? Das Singener Wochenblatt druckte im November 1992 gleich drei schwarze Seiten, als drei Türken in Mölln Opfer eines Brandanschlags Rechtsradikaler geworden waren!

Manches ist eben nicht ganz neu! Der Druck auf die Narren wird in den nächsten Tagen wachsen: Darf man in solchen Zeiten überhaupt Fastnacht feiern? Die unter dem Druck der veröffentlichten Meinung (BILD?) wegen des Golf-Kriegs 1991 abgesagte Fastnacht hat im Nachhinein fast zu einem Schwur geführt, dies so nicht mehr zu tun – und nicht auch wieder so mit sich machen lassen! Eine falsche oder gar gefälschte Informationslage hatte die Narren unter Druck gesetzt. Dieser war gewaltig, weil natürlich nicht jeder Friedensapostel etwas mit der Narretei anfangen kann.

Um Fastnacht muss man kämpfen! Das konnte man in den 60er Jahren als Schüler des Singener Gymnasiums lernen. Nachdem 1961 die Berliner Mauer errichtet worden war, ruhten in Singen die Malpinsel, mit denen üblicherweise die Transparente für den Hemdglonkerumzug gemalt worden wären! Oberstudiendirektor Dr. Josef Götz war kein Freund kritischen Narrengeistes. Als mein Jahrgang 1967 zur Ausrichtung des Hemdglonkerballs an der Reihe war, kam gleich die Hiobsbotschaft: Der Boden der neuen Aula sei für solche Tanzveranstaltungen nicht geeignet! Diese Botschaft aus dem Rathaus trauten wir nicht, dennoch suchten wir Alternativen: Der alte Musiksaal und zwei Klassenzimmer! Und dann kam der nächste Hammer: Der Schulbetrieb durfte dadurch nicht behindert werden! Wir konnten erst am Morgen des Schmotzige Dunschdig aufbauen und mussten in der Nacht alles wieder abbauen! Wir haben es getan! Für den Ball hatten wir eine Theaterszene aus dem „Sommernachtstraum“ von Shakespeare vorgesehen: Die Generalprobe fand während der Dekorationsarbeiten am Morgen statt!

Ja, die Fastnacht muss sich ihre Räume erkämpfen. Daran erinnere ich mich in diesen Tagen. Als im letzten Jahr in der Poppele-Zeitung Erinnerungen an die Kriegsfastnacht abgedruckt waren, gab es vereinzelte Proteste. Dabei hat ein im Schützengraben verfasstes Gericht eben doch wieder einen kulturellen Anspruch. Dabei kommt es schon wieder darauf an, auf welcher Seite sich wer sieht!? Es gibt einen ausgeprägten Poppele-Humor, der vor allem die Martini-Sitzung in Singen ausmacht. Man ist bissig, ohne zu verletzen. Man akzeptiert den anderen in seiner Andersartigkeit. Der Narr zeigt Flagge und bezieht Position. Aber das ist nicht unbedingt eine gesellschaftlich akzeptierte Grundhaltung angesichts allerseits verordneter Genussformen von Gaudi, Spaß und Feten.

Fastnacht muss sich eine Menge für die Akzeptanz in einer multikulturellen Gesellschaft einfallen lassen. Das hat die Poppele-Zunft im Vorfeld ihres großen Narrentreffens 2004 getan. Großartig war der Malwettbewerb für die Straßendekoration an Schulen und Kindergärten. Im Kreise der Verantwortlichen war man sich klar, dass die ganze Bevölkerung in dieses Fest eingebunden werden müsse. Auch ich sprach von „vertrauensbildenden Maßnahmen“, um eine grandiose Werbung für die Stadt mit dem Narrentreffen zu erzielen. Wie soll ein Moslem verstehen, warum sich die Leute plötzlich verkleiden und völlig aus dem Häuschen sind?! Oder unsere Spätaussiedler aus dem Osten? Wer die Namen unter den hunderten von Bildflächen gelesen hat, merkte, in wieviel Familien hier die Idee von Fastnacht Einzug gehalten hatte! Der Poppele hatte gerufen und alle rückten näher zueinander. Sie hatten die Narrenbotschaft verstanden.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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