Tourismus im Osten vor dem Mauerfall
Schiffbruch im „Prager Winter“

Wir feiern 25 Jahre Wiedervereinigung und Wegfall der Barrieren in Europa. Verdrängt wurde vieles vom Leben im Ostblock. Die aktuelle Flüchtlingswelle schafft neue Mauern. Plötzlich kommen Erinnerungen an den Schiffbruch im „Prager Winter“ hoch. Kurzum: Es geht um Geschäfte über die Grenze hinweg. Legal? Illegal? Sch…egal! Die Aufklärung kam mit der Fahrt und nach der Fahrt. Denn die einzigen Opfer waren wir mit unserer Stadtjugendring-Gruppe nicht. Unser Glück bestand vor 35 Jahren immerhin darin, dass ich die Reisepässe für den ganzen Bus noch am Abreisetag in meinen Händen hielt! Das war im real existierenden Sozialismus die „halbe Miete“. Der Veranstaltungspartner drohte mit der Polizei, wenn ich die Papiere nicht herausgeben würde. So ganz sicher waren sie ihrer Sache aber auch nicht. Also begann die Feilscherei! Dafür steht „IfB“, das Institut für Bildungsreisen Konstanz, für mich bis heute. Ich hatte gelernt, wie man rund um die Grenze Geld ohne eigene Arbeit und Leistung verdient. Man muss sich nur etwas einfallen lassen! Marketing ist bis heute alles. „IfB“ hatte schlichtweg den „Prager Winter“ erfunden. Ja. Nur einmal im Jahr seien sie alle daheim: Die weltberühmten Prager Künstler! Von der „Laterna magica“ bis zum Symphonie-Orchester unter der Leitung von Vaclav Neumann! Und dazu fuhren wir hin!

Der Preis war traumhaft! Und da wurden Erinnerungen an den „Prager Frühling“ wach – sollten es auch. Der Haken daran: 1969 war der Stadtjugendring Singen wirklich im Frühling in Prag! Das war ein Jahr danach! Die Russen hatten den Prager Frühling mit Waffengewalt beendet. Im Eishockey hatte sich die CSSR jetzt bei der WM revanchiert: 4:3 und 2:0 war überall am Wenzelsplatz zu lesen, nachdem das sowjetische Reisebüro in Flammen aufgegangen war. Jetzt wurde das Konzert zum „Prager Frühling“ zur politischen Demonstration. Und wir hatten Karten dafür!

Die Einreisebedingungen waren deftig: Studenten waren wie Pfarrer unerwünscht in der CSSR! Drei unserer Teilnehmer gehörten dazu: Stadtjugendring-Vorsitzender Friedolin Dutzi sowie Dieter Britz und ich als Studenten und Journalisten zugleich. Unsere tschechische Reisebegleiterin hatte bald begriffen, das Dutzi Pfarrer ist. Ab dem Zeitpunkt war er in Gottes Dienst unterm Hradschin unterwegs und schwieg! Dieter Britz und ich zeigten unsere Kameras und kamen mit den Menschen ins Gespräch.

Doch was war jetzt im Winter 1981 los? Wir fuhren mit einem Bus des Vestischen Reisedienstes aus Recklinghausen! Wir waren nie allein! Dutzende oder mehr Busse aus ganz Deutschland kannten nur ein Ziel: Prag! Da der Bruder des IfB-Geschäftsführers bei uns im Bus mitfuhr, erlebte ich die große Transaktion an der Grenze: Whisky und Cola wurden kästenweise den Grenzbeamten übergeben! Sie hatten schon auf uns gewartet! Ja, die Kultur war Makulatur! Für den Prager Winter war das Hotel „Evropa“ am Wenzelsplatz die Schaltzentrale. Unterm Hoteleingang wurden mir Kalaschnikows für 800 D-Mark angeboten. Für fünf „Krönchen“ gab es hinter der Rezeption einen Mitternachtssekt! Aber, was war mit der Kultur? Die „Laterna Magica“ war auch nicht mehr das, was sie mal war! Nur Vaclav Neumanns Konzert mit Werken von Antoni Dvorak riß von den Stühlen. Im Gang konnte man Schallplatten erwerben. Ich verzichtete darauf, um keinen Ballast draußen im Schnee bei mir zu haben. Doch diese Werke waren nirgends mehr erhältlich! Alles Produktion für die Devisen einer Nacht!

Es wurde immer klarer, dass es hier rings herum nur um Devisen ging! Beim Kirchenkonzert in der Prager Burg hatte der Organist auch nicht soviel gekostet! Aber gut war er schon! Mit unserer kulinarischen Tour quer durch Osteuropa waren wir auf eigene Faust zufrieden. So langsam wurde aber klar, dass in unserem Bus drei verschiedene Heimfahrttermine verkauft waren! Unsere Rückkehr war erst auf Montag terminiert, Sonntag sei noch für Programm in Prag vorgesehen! In anderen Gruppen müssten Montag schon Leute arbeiten! Die Unruhe war grenzenlos! Ich beharrte auf einen Programmtag mehr: So hätten wir die Reise verkauft! Der Konstanzer Veranstalter drohte mir jetzt mit der tschechischen Polizei. Ich müsste die Papiere der ganzen Gruppe herausgeben! Ich blieb kampfentschlossen: Dann sei für die anderen Endstation hinter der Grenze: Lenkzeitüberschreitung des Fahrers! Und am Montag schaffe immer noch keiner von den anderen. Ein Kompromiss deutete sich an: am Sonntag Programm in Pilsen mit einem angemessenen Mittagessen. „Angemessen“ wären so etwa sieben Gänge für 60 bis 70 Kronen! Das gab neuerlichen Aufstand in der Gesamtgruppe! Und im Kreis Konstanz müssten die Teilnehmer wohnortnah abgeliefert werden können! Der Busfahrer war jetzt auch unter Druck, denn er musste am Tag darauf schon wieder unterwegs sein! Von Recklinghausen aus! Unter dem Zeitdruck wurden die ganzen Bedingungen dieses Tourismusgewerbes immer deutlicher. Auf den Straßen lag glatter Schnee. Der Busfahrer packte aus, wie wenig bei ihnen in Recklinghausen ein Fahrtkilometer koste! Heimatanrufe dominierten ab der Grenze: Mancher Teilnehmer komme dann mitten in der Nacht an!

Die Atmosphäre im Bus war giftig! Einige würden nie mehr Freunde werden. Während wir in Pilsen noch beim Nachtisch waren, drängelte andere draußen vor der Tür! Dass es in einem Bus drei verschiedene Fahrtverträge gab, kapierten einige immer noch nicht! Wichtiger war, was über den Zoll gegangen war! Das hatte eine Gruppe der Regionalen Volkshochschule mit diesem Veranstalter auch erlebt. An der Grenze war eine Konstanzer Managerin verspätet angekommen gewesen! Unter den Sitzreihen wurde eine komplette Büroeinrichtung entdeckt! “Alles zurück!“, hörte man die Chefin brüllen. Das habe alles seine Richtigkeit! Da war Teilnehmern deutlich geworden, dass ihre Existenz hier nebensächlich sei! Meine Frau und ich stiegen gegen 2.30 Uhr in Bodman vor der Haustür aus! Hinter uns machten wir drei Kreuze. Von „IfB“ wollten wir nichts mehr hören!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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