Nachdenken über Marketing-Tricks zur Elternrolle
Perfides „Mutterglück“ im Rassestaat
Am Sonntag Muttertag, am Donnerstag Vatertag. Der Kalender meint es 2015 gut mit Eltern. Gut gemeint ist aber nicht unbedingt gut gemacht! So suchten „Lebensborn“-Kinder ihre Eltern. Aus den vermeintlichen „Wunschkindern“ der SS im Dritten Reich wurden später ganz normale Mitmenschen, die aber wissen wollten, woher sie kommen. Waren sie Produkte eines brutalen Rasseprogramms? Oder waren sie doch Kinder der Liebe, die aber nicht öffentlich werden sollte? Die reale Familienwelt ist eben anders. Und das ist gut so. 70 Jahre nach dem Kriegsende können wir mit Gelassenheit unsere Vergangenheit betrachten. Fakt ist, dass Hitlers NSDAP einen neuen arischen Menschen erschaffen wollte: Groß, blond, blauäugig, kampfentschlossen zur Rassenreinheit! Ihre Ideologie hatte viele Facetten, die beim Hochstilisieren der Mutterrolle begannen. Biblisch gesehen soll man Vater und Mutter ehren. Da passen ja beide Tage wirklich in eine Woche! Fakt ist aber, dass eine gesellschaftspolitische Aufwertung der Frau durch den Muttertagskult geradezu kontakariert wurde! Blieb ihre Mündigkeit im Kaiserreich stecken und erblickte deshalb nie das Licht der ersten deutschen Republik? Ist Muttertag heute abgesehen von unendlich vielen neuen Marketing-Strategien letztlich immer noch ein Oma-Tag? Oder warum sagen viele Senioren zum Volkstrauertag immer noch „Heldendenktag“? Wertbegriffe waren im Kopf vieler Zeitgenossen in Stein gemeißelt worden!
Wichtige Fragen zu unserer Vergangenheit wurden zu lange nicht gestellt. Erst mit dem Abstand zur Alltagshektik fand ich immer mehr offene Fragen. Dass Mutterglück im Dritten Reich hoch angesiedelt war, weil Deutschland Soldaten brauchte, war mir auch schon aus der Schulzeit bekannt. Was für ein ideologisches Konzept dafür gebaut worden war, ahnte ich nicht. „Lebensborn“ war mir bis zur Beschäftigung mit der Radolfzeller SS-Kaserne weitgehend unbekannt. Grund genug, das Buch „Lebenslang Lebensborn“ von Dorothee Schmitz-Köster jetzt zu lesen: „Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde“. Die geschilderten Einzelschicksale gehen ans Herz, sind aber als Muttertagslektüre nicht unbedingt zu empfehlen! Beeindruckend ist der Drang in Menschen, ihre familiäre Herkunft zu kennen. Und: Unsere Welt ist eben nicht planbar, vieles entzieht sich (zum Glück) unserem gestaltenden Zugriff! Ob Hitler, Stalin oder Mao: Die Schöpfung unserer Welt entzieht sich dem Willen totalitärer Herrscher.
Heinrich Himmler beklagte 1940, dass immer noch 600 000 Kinder im Jahr in Deutschland abgetrieben würden. Das seien später 18 bis 20 Regimenter weniger, die für die Deutsche Sache kämpften! Und immer wieder ging es um den Krieg der Rassen! Der „Lebensborn“ hatte viele Verästelungen. Die Förderung arischer Geburten war nur ein Zweig von vielen. Wer „dem Führer ein Kind schenken“ sollte, brauchte seinen Stammbaum! Auch dann, wenn ein hochrangiger verheirateter SS-Mann vertuschen wollte, dass er seine Freundin daneben gerade geschwängert hatte?! Auch das gehörte zum Alltagsgeschäft des Vereins: Anonyme Geburt mit garantiert echten Dokumenten! Schockierend sind dann Arisierungsprogramme aus besetzen Gebieten wie Rumänien. „Brauchbare“ Mütter wurden sortiert, bei Nichtgefallen der Produkte wieder aussortiert: Alles unter dem Diktat der Rassepolitik – die andere Seite der Euthanasie!
Das Kriegsende wirbelte Lebensentwürfe und Planungen kräftig durcheinander. Mancher landete von einer Pflegefamilie zur anderen – und plötzlich war wieder Muttertag! Solche Tage gab es auch in Radolfzell bei der Aufarbeitung der gesellschaftspolitischen Bedeutung der SS-Kaserne. In der Wochenblatt-Redaktion saßen mit zwei Enkel von SS-Offizieren gegenüber. Sie hatten am eigenen Leib die „Flüsterstadt“ zu spüren bekommen, denn Großmütter offenbarten sich erst auf dem Sterbebett. Eine Spur hatte nach Wien geführt. Ein junger Mann wollte für das Deutsche Reich und seine ideologische Ausrichtung etwas tun, kämpften. Er meldete sich in Berlin zum Dienst, wurde von dort zur Unterführerschule nach Radolfzell beordert. Doch dann kam die Liebe, dann der Kriegseinsatz und am Ende der tödliche Ausgang.
Wie geht eine Stadt damit um? Im Rathaus hatten die Franzosen keinen „Unbelasteten“ als Bürgermeister eingesetzt. Carl Diez, der letzte Zentrums-Abgeordnete, kämpfte vergeblich für die Wiederherstellung der alten politischen Verhältnisse im Städtle vor der Machtergreifung. Ein Friseur wechselte von der Kaserne in die Altstadt. Der evangelische Pfarrer ging in den wahrlich verdienten Ruhestand. Er hatte während des Krieges aus seiner Sakristei ein Trauzimmer gemacht. Jetzt wusste er zuviel und/oder sah zuviel?
War mit dem 8. Mai alles vorüber? In den letzten Tagen jagten die Gedenktage einander. Zudem die Bilder aus den Konzentrationslagern. Am Ostersonntag 1971 stand ich mit einer Delegation des Singener Stadtjugendrings in Auschwitz: Diese riesigen Gleisanlagen und von den Transporten dorthin will niemand etwas gewusst haben?! Hier endete das perfide „Mutterglück“ im Rassestaat! Zwillinge überlebten, weil man sie noch für medizinische Studien gebraucht wurden. Heute berichten Überlebende davon in Talkshows. Das alles ist eine perverse Vermarktung von unheilvoller Geschichte. Für das Ehren der Mütter reicht es immer noch. Und der Vatertag liegt noch vor mir. Aber was machen die damit, die einst ihre Kinder verleugneten? Sollten es Wunschkinder der SS gewesen sein, werden sie dank absoluter Geheimhaltung wohl auch entnazifiziert worden sein. . .
Von Hans Paul Lichtwald
- Redaktion
Autor:Redaktion aus Singen |
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