Wenn Geld überhaupt kein Argument mehr ist
„Onkel Lothars Oase“ nahe der Fußgängerzone

Vor 30 Jahren wurde die Singener August-Rufstraße zur Fußgängerzone. Das Projekt war von einer Welle der Begeisterung getragen, doch Hausbesitzer hatten durchaus auch Sorgen, was das für die Nutzbarkeit ihrer Immobilie in der Zukunft bedeuten würde. Was für eine Wertigkeit werde die Fußgängerzone bringen? Keine Dollarzeichen in den Augen hatte Lothar Hänssler. An der Ecke August-Rufstraße/Schwarzwaldstraße gehörte ihm ein absolutes Spitzengrundstück. Da hat sich bis heute nichts verändert. Sein Geschäftshaus mit Blumen Mauch im Erdgeschoss ist weiter mit Leben erfüllt. Seine Stadtvilla nebenan hat nur einen neuen Anstrich erhalten. Und dahinter grünt und blüht es im Garten: “Onkel Lothars Oase“ nahe der Fußgängerzone. Hier hat ein Mann ganz anderer Art Stadtgeschichte geschrieben, still und beharrlich, aber auf jeden Fall wirkungsvoll. Er hielt nie große Reden, obwohl er Ahnung vom Thema gehabt hätte; er war gelernter Architekt und wirkte einmal als Ortsbaumeister in Weimar. In Singen war er Vermieter des „Schwarzwälder Boten“ und somit auch mein Ansprechpartner. Klopften auswärtige Investoren bei ihm an, rief er mich oftmals hinzu. Rundum gelebte Stadtentwicklung im Dialog.

Spannend war schon die erste Bürgerinformation zur Umgestaltung der August-Rufstraße zur Fußgängerzone in den Räumen der „Alten Sparkasse“. Die Schönheit der neuen Flanierzone wurde gepriesen, der rechtliche Eingriff durch die Umwidmung gleichsam zur Petitesse degradiert. Die Alternative einer verkehrsberuhigten Zone spielte kaum noch eine Rolle. Offen blieb natürlich die Frage der Zufahrt zu den Geschäften und Grundstücken. Die wurde weitgehend in die privaten Gesprächsrunden verschoben. Eine meiner offenen Fragen war die nach der Zufahrt zu den Arztpraxen. Notfälle gab es bei den Augenärzten in unserem Haus, über den Kinos befand sich eine so ausgewiesene Unfallpraxis. Andere klagten über die vielen Banken an der neuen Fußgängerzone. Die Experten des Rathauses gaben sich weise: Der Besatz an der Straße würde sich durch die Umwidmung sowieso ändern.

Speziell war unsere Runde mit Lothar Hänssler, denn zwischen seinen beiden Häusern gab es eine Zufahrt, in der bis zu drei Autos parken konnten. Meines war häufig dabei gewesen. Während der großen Baustelle rings um unsere Eingangstür (gegenüber entstand zeitgleich der neue Heikorn) hatte der Verlag mir einen Stellplatz im Parkhaus Schwarzwaldstraße angemietet. Aber es ging natürlich um die Zukunft von Onkel Lothars Grundstückszufahrt, die auch der benachbarte Tabakhändler Freitag brauchte. Alles schien klar zu sein, bis Lothar Hänssler in höchster Aufregung zu mir kam: Vor seiner Zufahrt werde gerade für das Pflanzloch eines künftigen großen Baumes der Fußgängerzone von einem Bagger ausgehoben! Baustopp beantragen? Die wackelige Baurechtsgrundlage zum Explodieren bringen? Hänssler sah mich hilfesuchend aus ängstlich dreinblickenden Augen an. Seinen Neffen Peter hatte er auch nicht erreicht. Was tun? Ich rief Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle an. Der schickte Bauamtsleiter Rüdiger Neef mit Gefolge an den Tatort. Heiße Diskussionsrunden folgten. Das Ergebnis ist bis heute sichtbar: Kein Baum, eine Zufahrt und später noch ein Gatter davor.

Die Parkplätze waren für die Anlieger gesichert. Ich bekam von der Stadt eine Ausnahmegenehmigung, um die Fußgängerzone als Zufahrt zum Grundstück zu nutzen. Lothar Hänssler wollte sich in seinen Rechten nicht beschneiden lassen, auch nicht am Recht mitten in der Stadt seinen Garten zu pflegen. Immer wieder versuchten Makler, ihn mit Honig ums Maul zu locken. Bei einer Überbauung des Gesamtgrundstücks könnte man ja einen begrünten Innenhof entstehen lassen. Die Gelüste wuchsen, nachdem die alte Stadtapotheke nebenan verkauft war und Grillwurstduft durch unser Redaktionsfenster drang. Ein Kaufinteressent sagte mir nach Hänsslers Abfuhr, sinnvoll sei es nur, wenn man auch das Mauch-Haus abreißen würde! Aber Onkel Lothar liebte auch die Schwerwasserheizung in seiner Villa. Vor hundert Jahren war das der neueste Schrei; und auch in der Hohenkräherstraße gäbe es noch ein solches Haus! Wir fanden es nicht so großartig, denn im Winter waren unsere Büros oft bitterkalt! Ich musste still sein, denn es war nicht ganz einfach gewesen, einen schwäbischen Verlag dazu zu bewegen, zusätzliche Räume an der Fußgängerzone als Nachmieter der ÖVA Mannheim (Sparkassen Versicherung heute) anzumieten. Heinz Troppmann und Peter Hänssler hatten beim beiderseitigen Entscheidungsprozess mitgeholfen. Es war natürlich ein Traum, mit den Redaktionsräumen direkt an der Fußgängerzone den Puls der Zeit zu spüren. Blickt man auf die Veränderungen, die mit dem Zahn der Zeit einhergingen, so hat sich vieles geändert. Wo sind die Imbissbuden von einst geblieben? Der Waffelstand von Frau Schliecker war ein echtes Unikat mit reinrassig Singener Geschichte. Jasers Würste sind unvergessen. Cafe Schuler, später Herold selbst nach Wechsel der Straßenseite längst Geschichte. Nur wenige Zeitzeugen von damals leben noch, vor allem aber der Vater der Fußgängerzone, Dr. Artur Sauter. Er hatte die Zeitzeichen erkannt und für die richtige Aufbruchstimmung zusammen mit Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle gesorgt. Singens Weg zur Handelsmetropole war nicht mehr aufzuhalten, das wollte auch Onkel Lothar nicht. Seinen Garten opferte er dafür aber nicht. Als aber Gemüse-Pionier Rohe vor seinem Einzug in die Marktpassage ein Notquartier brauchte, öffnete er seinen Zaun an der Schwarzwaldstraße. Grantig wurde er nur, wenn die Baufirmen bei der dortigen Gehwegpflasterung seine Grundstücksgrenze mit ihrem Mörtel verletzten. Und der Zaun musste auch so bleiben wie er war. Und so steht er auch heute noch . . .

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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