Konstanzer Uni muss sich nach Nazi-Gutachten neu definieren
Mit Jauß Kampf um Deutungshoheit verloren

Die Erkenntnis ist für sie schmerzhaft: Die Rektoren und Professoren von einst sind nicht mehr Herr des Verfahrens, haben die Deutungshoheit über ihre eigene Vergangenheit verloren. Das Gutachten zum Werdegang von Professor Hans Robert Jauß im Dritten Reich löste am vergangenen Mittwoch im Audimax der Konstanzer Universität Emotionen aus. Mehr noch: Die überregionalen Medien fragen, wieweit alte Nazi-Bündnisse Forschung und Wissenschaft beim Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominiert haben. Haben andere – wie Jauss – ebenso zwei Karrieren gemacht, geschwiegen, gelogen und ein doppeltes Leben aufgebaut? Militär-Historiker Dr. Jens Westemeier aus Potsdam fand sein Fazit in feiner Wissenschaftssprache: „Der von Jauß tradierte Narrativ stimmt mit der Forschungslage nicht überein!“

In der zweiten Reihe sitzen die Wegbegleiter und wohl auch Freunde von einst. Sie wollen retten, was nicht mehr zu retten ist! Aber sie sind nicht mehr die Herren des Verfahrens qua Amt, versteckt unter der Macht von Talaren. Ihre Stellungnahmen haben sie mitgebracht, Ex-Rektor Bernd Rüthers brachte in komplettes Manuskript ans Rednerpult mit, regte sich auf, dass der ehrwürdige Ort zweimal zum Tribunal verkommen sei. Aber die Welt hat sich verändert: Der Gutachter erklärt, dass die Zugänglichkeit weiterer Quellen die Forschungslage in den letzten 15 Jahren in Sachen SS stark verändert habe. Und Earl Jofrey Richards, der in den 90er Jahren den Grundstein für die Debatte um Jauß gelegt hatte, erinnerte die Riege der alten Herren daran, was Internet und Neue Medien auf der Informationswelt verändert hätten. Ob viele den Hinweis verstanden haben? Für die Deutungshoheit reichen nicht mehr die Freunde und die Lokalpostille! Der heutige Rektor Ulrich Rüdiger formuliert den Anspruch, dass seine Generation wissen will, was Jauß von 1939 bis 1945 getan hat. Und: Rüdiger ist Physiker. Bei ihm zählen Fakten!

Dr. Westemeier lieferte Fakten in seinem Gutachten, Fakten zum Leben des hochdekorierten Gründungsprofessors während des Weltkriegs – und seinen verlorenen Rückweg zur Wahrhaftigkeit. Sein Auftrag war nicht, das Bühnenstück von Gerd Zahner und dessen Aussagen zu bewerten. Das eine ist Kunst und Literatur, das andere Wissenschaft. Was die honorigen alten Herren nicht verstanden hatten: Sie hätten mit ihrem Wissen bereits in den 80er Jahren die Vergangenheit ihres Kollegen hinterfragen können. Sie hatten das Instrumentarium dazu in der Hand. Selbst ein Interview von Jauß in „Le Mond“ zu den Vorwürfen ließ die Konstanzer Kollegen nicht tätig werden. Ging es um die Wahrung des Konstanzer Mythos? Am Mittwochabend saßen Vertreter der europäischen Medienlandschaft im Audimax! Sie waren bereit, die Deutungshoheit zu übernehmen. In die Richtung zielte wohl auch der Hinweis von Earl Jefrey Richards, der sinnigerweise neben Autor Gerd Zahner in einer oberen Reihe im Audimax saß. Als Mäkeleien an Gutachter und Theater-Autor drohten, die Oberhand in der Diskussion zu gewinnen, brachte Jurist Zahner seine Fakten auf den Tisch: Seine Jauß-Antrittsrede sei der bewusste Gegenentwurf zu den Darstellungen („Narrativ“) des Professors selbst gewesen. Sein Bühnen-Jauß habe das Recklinghausener Urteil im Original-Text verlesen. Und er habe gesagt, keiner könne ihm nachweisen, jemals in Kroatien gewesen zu sehn. Dr. Westenmeier belegte nun, dass Jauß qua Befehlsgewalt dort an grausamen Säuberungsaktionen beteiligt gewesen sei.

Ja, der Lack war ab. Zwei Tage später startete der große Medienwirbel im Internet. Bei Google reichten zwei Suchbegriffe: „Jauß SS“. Und dann begann die neue Deutungshoheit. Ganz oben standen der Deutschlandfunk und der SWR, plötzlich direkt dahinter „Wochenblatt online“ und auch „seemoz“, beide hatten von Anfang an Position bezogen. Im Laufe des Tages kamen viele Printmedien hinzu: Süddeutsche, NZZ, Osnabrücker Zeitung. Auch die Lokalzeitung hatte ihre Deutungshoheit verloren. Spürbar: Am Google-Ranking wurde manipuliert. Andere „Quellen“ kamen hinzu, darunter das Interview von „Le Monde“ von 1996, Wikipedia mischte sich mit einer überholten Version ein. Da kam die Berliner Zeitung mit ihrem einstigen Nachruf auf der weltberühmten Romanisten: „Sein Lebenswerk beruht auf einem einzigen Gedanken, doch dieser Gedanke erlangte Weltgeltung. Er wurde der einzige halbwegs erfolgreiche Exportartikel der deutschsprachigen Geisteswissenschaften nach dem Krieg. Man hat die Theorie von Jauß als "Rezeptionsästhetik" zusammengefasst. Sie geht davon aus, dass alle Literatur nicht einfach ein unmittelbarer Reflex auf Erfahrungen oder Wirklichkeiten ist, sondern selbst immer schon Literatur voraussetzt. Denn Erfahrungen werden überhaupt nur gemacht, weil es sprachliche und literarische Muster für sie gibt, für Liebesleidenschaft oder Naturerleben etwa. Die Literatur entwickelt sich weiter und bringt Neues hervor, weil sich diese vorgegebenen Muster immer wieder als unzureichend herausstellen und daher modifiziert werden müssen. Die großen Werke entstehen, weil Leser unter dem Druck nicht verarbeiteter Erfahrungen zu Autoren werden, dabei aber immer wieder auf ihre Leseerfahrungen zurückgehen.“

Wie wird die Konstanzer Universität mit ihrem einstigen Übervater umgehen. Am 6. Juni wird darüber wieder im Audimax diskutiert. Die Neue Osnabrücker Zeitung hat dazu Fragezeichen gesetzt. Zitat: „Die Wissenschaftler, die ihre NS-Karrieren verschwiegen haben, wussten voneinander und haben Netzwerke gebildet“, führt Professor Christoph König dazu aus. Ihre wissenschaftliche Position stand oft in auffallendem Gegensatz zu der Haltung, die sich bei ihren Karrieren im Dritten Reich gezeigt hatten. „Das spätere liberale Engagement der Professoren, die ihre Parteimitgliedschaften oder auch Ihre Karrieren im Dritten Reich verschwiegen haben, war oft eine stille Form der Wiedergutmachung“, sagt König. Allerdings ist für den Osnabrücker Forscher auch klar, dass die Professoren, die ihre NS-Karriere verschwiegen, genau jene Wissenschaftler und Lehrer mit ihrem Täuschungsakt allein ließen, die sie ausgebildet hatten.“

Dr. Stefan Lüddemann hat dazu kommentiert: „Sie gaben sich links und liberal, schnitten an den Hochschulen jede Menge alte Zöpfe ab. Doch mit den Enthüllungen um den einstigen Professorenstar Hans Robert Jauß steht fest, dass die nächste Galionsfigur einer vermeintlich großen Ära entzaubert ist. Ob der Tübinger Rhetorik-Lehrer Walter Jens, der Berliner Germanist Eberhard Lämmert oder nun Hans Robert Jauß, dessen Antrittsvorlesung das Wort „Provokation“ im Titel führte – sie alle waren Mitglieder in NS-Organisationen, haben ihre Vergangenheit verleugnet. Mit diesem Versagen haben sie nicht nur die eigenen Biografien ruiniert, sondern auch Wissenschaftsgeschichte ramponiert. Das ist umso schmerzlicher, als die Lebenswerke dieser und weiterer Forscher erklärtermaßen im Dienst der Demokratisierung standen. Dieses Projekt einer ganzen Generation hat an Glaubwürdigkeit verloren. Jetzt stellt sich die Frage nach verborgenen Kontinuitäten. Haben Jauß und andere ihre Haltung nach 1945 geändert oder haben sie einfach weitergemacht – als NS-Karriereprofis? An der Antwort hängt viel. Auch das Selbstverständnis von Wissenschaft.“

So bleibt mir meine Schlusspointe. Ich saß bei Professor Jauß in einem modellhaften interdisziplinären Seminar von Romanisten und Politologen über Jean Jaques Rousseau. Mein Thema war, wie weit Rousseaus Gedankengut in die Revolutionsverfassungen eingeflossen ist. Mich beschäftigte die Frage, was den SS-Mann Jauß an Rousseau interessiert habe? Eine heutige Professorin antwortete spontan: „Die vólonte générale“! Vom Volkswillen bis zur Führervorgabe war für mich der Weg plötzlich nicht mehr weit. Da traf mich Dr. Lüddemanns Kommentar. Hier geht es nicht um Klein-Klein, Details im Weltablauf oder in einem Gutachten! Gibt es eine „Erbsünde“ im Wissenschaftsbetrieb? Der frühere Rektor Bernd Rüthers brachte es am Mittwoch bei seinem peinlichen Auftritt auf den Punkt: Wo sollten die Juristen herkommen, die seine Generation nach dem Krieg an der Uni ausbildeten? Dazu frage ich weiter: Wer machte nach dem Zusammenbruch der DDR weiter? Geht es immer weiter mit dem Mief unter den Talaren????

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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