Digitale Erinnerer mit merkwürdigen Gedächtnislücken
Langemarck-Mythos erreichte Singen
Wir erinnern uns ständig! Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg. Der Mythos von Langemarck erreichte auch das Singener Gymnasium. Den Namen trug es, bis das zweite 1972 kam. Doch der wurde vergessen. Da haben auch die „digitalen Erinnerer“ plötzlich Erinnerungslücken. Bei Internet-Recherchen stoße ich plötzlich auf einen jüngeren Zeitungsartikel von einer Buchtaufe. Da behaupten plötzlich kluge Köpfe, nie vom Namen Langemarck für diese Singener Schule gehört zu haben! Ich habe nie gewusst, dass das Triptychon von Dr. Hans Lochmann im alten Musiksaal auf den Namen Langemarck höre?! Für mich war es eine Jugendsünde des Hilzinger Ex-Schülers, dessen tief religiöses künstlerisches Anliegen mich stets beeindruckt hat. Das Triptychon? Ein Fall von „Blubo“ und „Muki“ – angepasste Auftragsarbeit im Dritten Reich. Die Begriffe habe ich dort während meiner Schulzeit gelernt: „Blut und Boden“ sowie „Mutter und Kind“. Und am Ende wird der Held betrauert.
Nie von Langemarck in Singen gehört? Wir eben in einer Zeit voller Kenntnis und Wissen. Aber mit der jeweiligen Zuordnung stimmt es längst nicht mehr. Es mangelt beim Feinschliff. Auch für mich ist heute keine Recherche ohne einen Blick auf „Wikipedia“ mehr denkbar. Aber ich bin einen Schritt weiter, denn ich frage mich, wer hier die Daten „eingepflegt“ hat? Und immer wieder meine Lieblingsfrage: „Cui bono?“ Ja, wem nützt es, soll es nützen? Und sofort bin ich beim Dialog der beiden Piccolominis aus den „Wallenstein“, wenn der Vater zum Sohn sagt: Du kannst nicht kinderrein bleiben!“
Das war und ist das Problem gerade in der Schule mit dem Umgang rund ums Dritte Reich. Die erste Nachkriegsgeneration der Lehrer war „belastet“, wollte es aber nicht unbedingt sein. Dann wollte die nächste Generation aufklären, andere die Geschichte neu schreiben. Heute ist es modern, Lebensgeschichten neu zu entdecken. Das mit den Zeitzeugen klappt auch nicht mehr so. Die Geschichte vom Hörensagen hat sich überwiegend selbst überlebt. Umso mehr jubelt die Medienwelt über einen heute 93-jährigen Buchhalter von Ausschwitz vor Gericht. Unsere Welt braucht O-Ton! Das Quellenstudium der Historiker scheint im Mittelalter stecken geblieben zu sein! Die Konstanzer Uni wird am 20. Mai um 19 Uhr im Audimax ihre Geschichte mit dem Jauß-Komplex aufarbeiten. Didi Danquarts Premieren-Verfilmung von Gerd Zahners „Liste der Unerwünschten“ steht zur Verfügung. Die Historiker haben ihre Arbeit beendet. Konnten aber die „Zeitzeugen“ von einst, die Wegbegleiter, „kinderrein“ bleiben?
Zurück zu „Langemarck“. Ich wusste, wie die Schule hieß, die ich besuchte. Und ich wusste auch mehr, als das Buch zum „Hundertjährigen“ der Schule preisgeben wollte. In meiner Besprechung im Singener Wochenblatt monierte ich, dass Dr. Hennestal als Schulleiter im Dritten Reich glatt „vergessen“ wurde. Ich kannte ihn als meinen ersten Klassenlehrer 1960 in der Sexta. Bei der aktuellen Internet-Version der Homepage der Schule beginnen die Schulleiter erst 1968 mit Dr. Karl Glunk. Warum wurde sein Vorgänger Dr. Josef Götz, späterer Präsident des Oberschulamts Tübingen, weggelassen? Ist Geschichte zur Spielwiese der Beliebigkeit verkommen? Ich habe das anders kennengelernt. 1968 gehörte ich zum ersten Geschichtsabi-Jahrgang von Dieter Möhrle. Der hatte in der Untersekunda eine Geschichts-AG zum Dritten Reich angeboten. Der nahm eine Anlehne aus dem Schularchiv und brachte Dokumente von damals mit. Hakenkreuze auf Schuldokumenten zu „Ordnungsmaßnahmen“! Uns überlief ein Schauer, dass das unsere Schule war! Dass das zu unserer Vergangenheit gehörte!
Der Geist von „Langemarck“ war plötzlich da. Von diesem Geist entwidmet war die Schule im Namen nie. Man sprach über ihn aber nie. „Das Singener Gymnasium“ war ein Marketing-Begriff für sich: Das größte an Zahl im Ländle, als „Eliteschule“ oft verschrien. Der Stempel auf die Abi-Zeugnis ein Qualitätssiegel. Dann begann die Namensdebatte. Emil Sräga kämpfte im Gemeinderat erfolgreich für das Gerhard-Hauptmann-Gymnasium – zur Erinnerung an die Vertriebenen. Schulleiter Dr. Karl Glunk führte die Kampflinie dagegen an: Mit dem Hegau-Gymnasium war er am Ende erfolgreich. Ich hätte mir einen Namen als Programm gewünscht, eine intellektuelle Ausrichtung: Wöhler im Süden naturwissenschaftlich ausgerichtet und den klugen Kopf im Norden . . .
Plötzlich sprach man über Langemarck: Alles andere wäre auf jeden Fall besser. Als in den 90er Jahren Lehrer Flossmann seine Lochmann-Kampagne startete, ging es um eine Art Bildersturm. Bei Wikipedia wird behauptet, in den 70er Jahren sei das Wandbild zeitweise zugedeckt worden sei. Entzieht sich meiner Kenntnis. Nur an der Fastnacht 1967 war es durch ein Schüler-Kunstwerk den Blicken entzogen, als der Musiksaal Ort des Hemdglonkerballs wurde, weil die frisch gebaute Aula dem närrischen Gestampfe von der Statik her nicht gewachsen sein sollte. Ja, es geht auch bei einfachen Dingen oft um die relative, politisch vertretbare Wahrheit! So auch mit Langemarck. Am 10.November 1914 wurden in der Schlacht bei Ypern in Belgien tausende junge Leute wahrlich als Kanonenfutter missbraucht wurden. Statt Trauer begann vor 100 Jahren bereits ein neuer Langemarck-Kult, den die Deutsche Studentenschaft 1928 zur eigenen Tradition ummünzte. Hitler setzte einen darauf: Die jungen Burschen seien so tapfer und mutig im Kampf gefallen – „wie alte Soldaten!“ Geschichtsklitterung gehört heute trotz angeblich „sozialer Netzwerke“ zum Alltagsgeschäft. Überall Gewalt und Konflikte in den Nachrichten – und ein Ringen um Wahrheit in den Medien?! Und damals? War die Schlacht bei Langemarck überhaupt dort? Oder klang es einfach heldenhafter als ein kaum aussprechbarer Ortsname wie Noordschote oder Bixschote?
Das wäre auch kein späterer Schulname gewesen! Also: Die „Bürgerschule“ ist am 15.9.1899 mit der Singener Stadterhebung eröffnet worden. 1927 gab es die erste Entlassfeier für Abiturienten, 1934 wurde sie zum Langemarck-Realgymnasium. Ab 1937 war sie dann Oberschule für Jungen, 1944 wurde sie geschlossen. Nach Kriegsende war das Gebäude Lazarett und Kaserne der französischen Besetzer, Neustart für den einheimischen Nachwuchs war in der Zeppelin-Schule. Mir ist genau für diesen Zeitpunkt keine heimatgeschichtliche Aufarbeitung bekannt. Verschiedene Jahrgänge wurden zusammengewirbelt. Mit Erstaunen habe ich dann zur Kenntnis genommen, dass die Politiker Dr. Robert Maus, Friedhelm Möhrle und Dr. Horst Rieger Schulkollegen waren. Aber auch das gehört wohl zu den Themen, über die man nicht gerne spricht. Bliebe die Frage, wer die Themen vorgibt, die historisch aufzuarbeiten sind? Problematisch wird es dann, wenn sich Publiziertes mit eigenen Erinnerungen kreuzt!
Von Hans Paul Lichtwald
- Redaktion
Autor:Redaktion aus Singen |
Kommentare