68er Blick reicht auch heute auch heute nicht bis nach Singen
Konstanz bis heute die „andere“ Provinz?

1968 kamen die ersten Erstsemester an die Konstanzer Universität, die damals ihren Verwaltungssitz im Insel-Hotel hatte und deren Fachbereichshäuser den Sonnenbühl zierten. Die dazugehörende Bushaltestelle war urplötzlich am Straßenrand, wo es zugleich auch zum sozialen Brennpunkt Stockacher Weg ging. Ja, wie sollte Konstanz nun mit den neuen „Mitbürgern“ umgehen? Die Studentenunruhen kamen fast jeden Abend in den Fernseh-Nachrichten. Das war ein Phänomen der Großstädte und natürlich der Linken. Und mit beiden hatte Konstanz nichts gemein. Was ist dann passiert in der „anderen“ Provinz? Heike Kempe hat als Herausgeberin den mutigen Versuch unternommen, dieses sozio-kulturelle Phänomen aufzuarbeiten. Das im Konstanzer Universitätsverlag jetzt erschienene Werk basiert auf den Erinnerungen von Zeitzeugen, die allerdings Singen nie erreicht haben.

Der Student war ausgangs der 60er Jahre natürlich das unbekannte Wesen! Nichts schaffen, nichts leisten, nur demonstrieren! Das waren die Vorurteile, die in weiten Kreisen der Bevölkerung kursierten. Und selbst, wer die acht Semester vermeintliche Regelstudienzeit noch lange nicht voll hatte, galt im bürgerlichen Lager schon als „ewiger Student“. Singen erlebte 1967 ein Studentenbild, das alle Vorurteile vereinigte. Der einstige Juso-Vorsitzende Günter Heiß hatte dem Konstanzer SDS die Tore der Stadt geöffnet und zu einer Anti-Vietnam-Demonstration aufgerufen! SDS? Das war der Sozialistische Deutsche Studentenverband, einst Studentenorganisation der SPD, dann heimatlos in einem Wirrwarr von K-Gruppen. Rund 3000 Demonstranten zogen an einem Samstagnachmittag mit Transparenten und Parolen durch die Ekkehardstraße. Eine ungläubige Bürgerschaft stand atemlos am Straßenrand.

Drei Jahre später kam das Aus für den SDS an der Universität Konstanz. Er hatte dort den ASTA gestellt und wurde plötzlich per Urabstimmung wegen Untätigkeit abgewählt. An der noch jungen Uni herrschte Vollversammlungs-Demokratie bei der Studentenschaft. Fast jeden Donnerstagnachmittag ging es zur Sache. Doch es gab schon eine schweigende Mehrheit. Die aktivierten Jungpolitiker etablierter Parteien mit ihrer Initiative. In Konstanz wurde auf jeden Fall das Ende des SDS in Deutschland eingeleitet. An der Konstanzer Öffentlichkeit gingen solche Themen provinzbedingt damals vorbei.

Geblieben ist mit dem neuen Buch das Problem der Geschichtsbetrachtung nach mündlicher Überlieferung von Zeitzeugen. Im Sommer 1968 demonstrierten Besucher der heutigen Fachhochschule zu berufsspezifischen Themen. Später gab es eine große Aktion gegen die Notstandsgesetze. Wichtig war für die lokalen Chronisten, dass sie auf der Rheinbrücke demonstrierten! Nein, das tut man nicht! Auch noch den Verkehr aufhalten?! Doch dann erst kamen im Herbst die Erstsemester. Eine Frage bleibt: Wo kamen die vermeintlichen „Konstanzer“ Studenten vorher her?

Kulturelle Auf-und Ausbrüche seit den 60er Jahren arbeiten die Autoren im Bodenseeraum auf. Problem ist nur, dass Singen zu diesem Raum offenbar nicht gehört. Dabei setzte Singen 1968 einen weiteren Akzent, als die Sowjetarmee in Prag einmarschiert war. Ring Politischer Jugend wie Stadtjugendring marschierten voran, um dagegen und für die Freiheit zu demonstrieren. An die 4000 Menschen folgten beim Marsch den späteren SPD-Spitzenleuten Heidi Lorenz-Schäufele und Dietmar Johann. Es war auch eine emotionale Antwort auf die SDS-Agitation ein Jahr zuvor. Die Nachwuchsorganisationen der Bundestagsparteien pflegten in Singen den Dialog, luden gemeinsam zu Podiumsdiskussionen zu aktuellen Themen ein. Der Vorsitz im RPJ wechselte jährlich, 1969 war es Volker Kauder, der heutige Vorsitzende der Bundestagsfraktion von CDU/CSU.

Der Blick von Konstanz reichte aber nicht bis nach Singen. Bei der CDU gab es bis zur Verwaltungsreform im Ländle zwei Kreisverbände, bei der Jungen Union auch: Konstanz-Stadt und Konstanz-Land. Wo sollte da die Einheit herkommen? Aber das wäre ein Thema für ein weiteres Buch. Angesprochen ist die Frage der „Kleinstadtöffentlichkeit“. Das ist die Fortsetzung der Kirchturmspolitik! Jeder wirft es dem anderen vor. Damit kommt man aber keinen Schritt weiter. Das gilt auch für die Aufarbeitung der 68er: Bis hin zur weiteren Kindererziehung sollen sie für alles verantwortlich sein! Entscheidend ist die historische Perspektive der Autoren, also auf welcher Seite wer damals stand. Ich war damals in Konstanz dabei und nach der SDS-Abwahl einmal Kassenprüfer eines nichtrevisionistischen kommunistischen ASTA! Und dennoch bekomme ich heute meine staatliche Rente. . .

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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