Wie Tradition und Rituale in Vergessenheit geraten
Jahrgangstreffen als Stadtgespräch
Sag mir, wo die Jahrgangstreffen geblieben sind, wo sind sie geblieben? Die Jahrgangstreffen waren früher ein Fest, als würden Weihnachten und Ostern zusammenfallen. Da kamen ehemalige Mitschüler aus den USA, andere waren schon zweimal geschieden. So eine 60er- oder 70er-Feier war oft schon Wochen zuvor Stadtgespräch. Doch: Wo sind sie geblieben? Da, wo die Jahrgänge noch übersichtlich waren, da gibt es sie noch. Wer aber wollte die Adressen zusammensuchen, um zu einem 60er-Treffen in Singen einzuladen? Mich fragte ein ehemaliger Schulkollege vor Jahren, wie man so etwas denn machen könnte. Ich bot ihm die Werbung für ein Treffen auf jeden Fall über das Wochenblatt an, denn genau diese beiden Themen haben eine Menge miteinander zu tun. Ohne „Kurz und Bündig“ gäbe es schon lange keine monatlichen Treffen von Schuljahrgängen in unserer Region mehr, denn diese Information kommt gratis in jedes Haus! Heute gibt es natürlich e-mails und Computer-Ausdrucke. Aber seit Jahrzehnten war es Tradition, dass Jahrgangsankündigungen auf handschriftlich ausgefüllten Zetteln in die Redaktion gebracht wurden.
Aus der Abgabe des Zettels wurde fast schon ein Ritual: Man kam ins Gespräch und kannte sich schließlich. Neuigkeiten kamen so in die Redaktion: Was erregte die Gemüter beim letzten Jahrgangstreffen? Oder die außerordentlichen Treffen mussten angekündigt werden, wenn ein einstiger Mitschüler gestorben war. Über allem aber schwebte das große Jahrgangstreffen, ein Ritual für die ganze Öffentlichkeit. Wenn in Singen im Herbst am Samstag die Busse zwischen Rathaus und Peter-und Paul standen und warteten, dann war klar: Die Jahrgangstreffen haben wieder Saison. Da stand der gemeinsame Kirchgang auf dem Programm – und natürlich der Empfang im Singener Rathaus. Irgendwann gab es dann noch das offizielle Foto des ganzen Jahrgangs auf einer Kirchentreppe. Die lokalen Fotografen schlugen sich fast um den Auftrag. Der Termin verlangte schnelle Fleißarbeit im Fotolabor, denn am Abend sollte schon beim Festbankett Kasse gemacht werden!
Jahrgangstreffen waren vor allem in den 70er Jahren ein hochpolitisches Ereignis, denn der damals junge Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle zeigte den „Heimkehrern“ beim Empfang im Rathaus „seine“ neue, junge Stadt. Da kam im Ratssaal unter dem Dix-Wandgemälde Stolz auf die Heimatstadt auf! Und dann folgte die Stadtrundfahrt meist in mehreren Bussen. Heiß begehrt waren die Plätze in Möhrles Bus, denn schon am Montag war Stadtgespräch, was Möhrle wieder an Neuigkeiten weitergegeben habe. Im anderen Bus saß meist Wilhelm Grimm, ehrenamtlicher OB-Stellvertreter von der anderen Coleur. Was hat der gesagt? Was der andere? Rings um die Jahrgangstreffen entstand eine bisweilen auch aufgeregte Öffentlichkeit.
Wer waren die aktuellen Organisatoren des Jahrgangstreffens? Wer der Festredner am Abend? Ungeschoren kam die Lokalpresse nicht davon. Auf jeden Fall wusste man jetzt, wer in welchen Seilschaften seit seiner Schulzeit steckte. Kommt er oder kommt er nicht? Heiß begehrt war Rudi Woller, aus Singen stammender späterer ZDF-Chefredakteur. Oder Dr. Hans-Peter Mehl, sozialpolitischer Guru aus Freiburg. Das Gemeinschaftshaus von Alusingen war traditionell der festliche Treffpunkt der Jahrgangs-Größen. Und die ganze Stadt war stolz darauf, wenigstens diesen Festsaal zu haben. Geträumt wurde damals von einer großen Singener Stadthalle. Jetzt ist sie da, aber wo sind die Jahrgangstreffen geblieben?
Brauchen wir sie noch? Treffen sich nicht alle, die es noch wollen, bei Facebook wieder? Oder brauchen wir diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten nicht mehr? Mein Haus, mein Auto, mein Boot, mein Pferd? Was ist aus den Stars von einst geworden? Ein Leben voller Brücke auf dem Prüfstand? Beim 20jährigen Abiturfest war mir vieles so fremd. Was sagen mir die alten Schulbänke von der Sexta? Eine spätere Studienkollegin brachte es auf den Punkt: Warum sollen wir uns heute verstehen, wenn wir damals schon nicht miteinander ausgekommen sind?! So war es auch am Nachmittag gewesen: Ich zeigte alten Freunden „Die Färbe“, während eine andere „Fraktion“ durstig „Knuts Pinte“ suchte. Sie wollten mir nicht glauben, dass es diese Szene-Kneipe schon lange nicht mehr gebe.
Brauchen wir überhaupt diese Kultur des Erinnerns? Beim Schreiben werde ich nachdenklich. Von 54 Abiturienten von einst sind zwölf in der Region geblieben – elf Lehrer und ich! Einen Banknachbarn aus der Grundschule traf ich öfter einmal, ein Lehrer mit kommunalpolitischem Mandat. Die Ausdifferenzierungen im Schulsystem reduzieren das Maß der Gemeinsamkeit. Geblieben sind andere Erinnerungen: die Handballer, die Theaterspieler, die Nachbarn im Schulchor, die Mitschüler im Religionsunterricht. Da gibt es ein „Jahrgangstreffen“ anderer Art, die Goldene Konfirmation. Die feierte ich letztes Jahr in meiner Wohngemeinde. Jetzt kam die Einladung dazu aus meiner einstigen Heimatgemeinde, der Singener Lutherpfarrei. Ja, die Steuerlisten vergessen niemanden. Vielleicht sollte das Finanzamt künftig auch zu den anderen Schuljahrgangstreffen einladen? Ob damit eine neue Lust auf Erinnerungen entfacht werden könnte? Fehlende Adressen aus aller Welt wären keine Ausrede mehr!
Von Hans Paul Lichtwald
- Redaktion
Autor:Redaktion aus Singen |
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