Wie Kunden über den Küchen-Tisch gezogen werden
Geschäftsmodelle und Schubladen

Früher hat der Schreiner die Schublade angefertigt. Jeder Küchentisch hatte seine Schublade, jeder Sekretär hatte sogar mehrere. Sie beinhalteten auch viele Geheimnisse. Heute gibt es eine Menge virtuelle Schubladen, vor allem solche in unserem Kopf. Da sortieren wir Charaktere, Verhaltensweisen, Grundmuster des Alltaglebens. Wehe, wenn jemand da in die falsche Schublade gesteckt wird! Dabei sagt man ja, man solle keine Vorurteile haben. Ich halte es da mit dem Philosophen Karl Popper und seinem System der Falsifikation: Ich bilde mir ein Bild zu einem Themenkreis oder Menschen und dann stelle ich es ständig auf dem Prüfstein, denn es ist leichter, eine Theorie als falsch zu erkennen als später ein Dogma zu Fall bringen zu wollen. Doch zurück zur Schublade und dem Schreiner: Handarbeit hat eben Qualität und hält ein Leben lang. Und noch Jahrzehnte später wusste man, wer welche Gewerke beim Hausbau damals ausgeführt hat. Heute kennen wir Gewährleistungsfristen, deren Absicherung schon manches Bauunternehmen in den Konkurs getrieben hat.

Der Besuch eines alten Freundes versetzte ich da kürzlich in Aufregung: Er hatte sich einen langgehegten Wunsch mit dem Bau eines Fertighauses erfüllt. Aber schon während der Bauphase gerieten einige Beteiligte in Schubladen. Ich hatte ihm vorher noch geraten gehabt, ein Fertighaus so zu kaufen, wie es im Modell dasteht. Änderungen des Bauherrn werden eher teurer. Aber ganz ohne geht es eben nicht. Er wollte nebendran eine Doppelgarage. Er fragte dann, wo die Schweißnaht sei. Die Antwort kam schubladenmäßig: Bei unserem System gibt es das nicht! Dafür bekam die Außenwand schon in den ersten Wintermonaten „Sommersprossen“. Die Mängelliste ließe sich beliebig verlängern. Bodenfliesen waren im ganzen Haus vorgesehen. Doch dann stand im Vertrag wirklich, dass die Sockelleisten außerhalb des Wohnzimmers aus Holz sein würden. Die Nachbesserung sollte 5500 Euro kosten! Subunternehmer erschienen, eine Kolonne mit Schweizer Autokennzeichen. Aber in Wirklichkeit kamen sie von der polnischen Grenze!

Da tun sich neue Schubladen frei nach Popper in meinem Kopf auf: Wie war das beim Bau im Singener Gambrinus-Areal, als der Zoll morgens um 7 schaute, ob hier die Welt in Ordnung war? Oder jetzt bei der GVV? Wie sieht es da mit der Gewährleistung aus, wenn jetzt schon die Kassen leer sind? Mein Freund hatte einen gute Tipp für Häuslebauer generell: Vor Ablauf der Gewährleistung mit einem Gutachter durchs Haus gehen!

Wie weit werden wir selbst durch unser Verhalten „schubladisiert“? Verkäufer lernen uns im Gespräch bis in die hintersten Winkel unserer Küchenschublade kennen und taxieren. Ja, die alte Frage von Else Stratmann in der Metzgerei: „Darf‘s ein bischen mehr sein?“ Dann gönnen wir uns halt nicht nur ein bischen sondern einfach mehr! Zusätzliche Wünsche hat doch jeder. Das ist wie bei der Bestellung im Restaurant: der eine sagt klar, was er will – und der andere lässt sich in die Welt des Konjunktivs entführen. Das und das das könnte man noch als Zwischengang nehmen. Und das andere Dessert wäre doch besser! Und erst kommt dann vor lauter munterer Diskussion am Tisch etwas Falsches – und über die Rechnung schweigen wir!

Wenn es um das Zahlen geht, verändert sich vielfach die Gangart. Da hört der Konjunktiv auf und das Inkasso-Unternehmen kommt. Das Bild ist in unseren Köpfen immer noch da: wer seine Zeche nicht zahlen kann, muss zum Spülen in die Küche! Inkasso-Unternehmen haben heute allerdings selber eine vollautomatische Spülmaschine. Und da geht es fleißig hinein in die Schubladen. Die Kreditfallen junger Menschen kennt man: Handy-Verträge, Versicherungen, Autos. Wenn ein Girokonto leer ist, platzt mancher Abbuchungsauftrag. Beim Inkasso-Unternehmen wird der Ton dann rauher. Vor Gericht gibt es die Unschuldsvermutung ( Marke Popper ), hier dominiert die Drohkulisse. Die Beweislast liegt beim Versicherten, der sich den Überweisungstermin zwar notiert hat, aber den Bankauszug nicht greifbar hat. Die Versicherung hätte ja ihrerseits den persönlichen Kontakt zum Kunden herstellen können. Sie hätte ja auch den Vertrag kündigen können. Aber der (letzte?) Jahresbetrag mit Inkasso-Forderung ist ihr wohl lieber. Ist das das Geschäftsmodell? Wenn Zahlungen ins Stottern kommen, ab in die Schublade und dann ausquetschen und entsorgen.

Eigentlich geht es um ein einziges Thema: Vertrauen. Brauche ich tagtäglich den Rechtsanwalt meines Vertrauens an meiner Seite? Muss er zu meinem Lebensberater werden? Oder wie komme ich aus meiner Schublade wieder heraus? Wir alle sind aufgefordert, „Geschäftsmodelle“ zu hinterfragen. Die Inkasso-Adresse mit tollem Briefkopf war wohl eher ein Ein-Personen-Betrieb, der darauf spezialisiert ist, eine bestimmte Schublade auszuräumen. Oder der mittelständische Fertighausanbieter verbirgt hinter seiner Fassade eine Subunternehmerstruktur, die mit „made in Germany“ nur noch wenig zu tun hat. Oder will der Mensch betrogen werde, Hauptsache es ist billig?! Die gute, alte Küchenschublade hatte eben auch ihren Preis!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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