Vera Backmunds Nacht vor der Entscheidung
Engener Kapitulation: Ein Schnitt wie im Film?

War Vera Backmund die Retterin von Engen? Sie wäre deshalb gerne Ehrenbürgerin gewesen, aber man wollte sie nicht. Autor Gerhard Zahner lässt sich in seinem neuen Stück „Veras Schnitt“ nicht auf das Nachgeplänkel ein, er reduziert und komprimiert dieses Kapitel des Kriegsendes auf die Nacht davor. Was bewegte die damals 33Jährige, sich am kommenden Tag den Franzosen mit der weißen Fahne entgegen zu bewegen? „Morgen brennt meine Stadt, wenn wir warten,“ sagt Vera im Stück im Dialog mit einer Besucherin im „Lamm“. Diese war zuletzt mit elftausend Frauen aus Köln geflohen, weil ihre Stadt bereits brannte. Darauf will Vera Backmund keinesfalls warten. Sie wird handeln. Von draußen mahnen die Geräusche: Lastwagen, schweres Gerät, das Kriegsende schaut gleichsam durch’s Fenster. In einer szenischen Lesung wird die fiktive Begegnung in der Nacht der Entscheidung am Donnerstag, 18. September 2014, um 19.30 Uhr im Schloss Schlatt unter Krähen aufgeführt.

Gerade in diesem Jahr erleben wir viele Gedenktage. Die einstigen Alliierten feiern ihren erfolgreichen Kriegseinsatz, beschwören ihren Kampf gegen Hitlers Überfall von fast ganz Europa. Der 8. Mai 1945 hat seine Symbolkraft bis heute weltweit bewahren können. Aber wie gehen wir in Deutschland damit nachrichtenmäßig wie emotional um? Die Nachkriegszeit kannte eigentlich nur eine Botschaft: Kein Tag der Befreiung, aber der Kapitulation. Fast wie ein zweiter Vertrag von Versailles! Warum jubelt niemand oder feiert die Rettung? Schämt man sich angesichts der Tatsache, dass ganz Deutschland sonst in Schutt und Asche lag? Warum spricht in Deutschland (fast) niemand von weißen Fahnen?

Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte der Nachkriegszeit hat erst langsam begonnen. Eine blockierende Nachricht war: Zu viele der braunen Täter leben noch, zu vieler ihrer Familien sind wieder in Politik und Gesellschaft in verantwortlicher Funktion. Es gab die endlosen Diskussionen, man müsse endlich einen Schlussstrich ziehen! Unsere neue Generation müsse sich den Schuh der Kollektivschuld doch nicht anziehen lassen! Oder: Was hätten wir tun können? Heute sind Spurensuchen mehr denn je gefragt, um Fragen zu beantworten, die nach dem Krieg fast niemand zu stellen wagte. Wie war das mit der SS-Kaserne in Radolfzell? Welche braune Gewalt ging von ihr in der Region aus? Elmar Wiedeking hat erst kürzlich die letzten Tage bei ihrem dramatischen Abmarsch aus der Bodensee-Region in seinem Buch dokumentiert: „ Das Ende“. Das Zittern der Menschen angesichts täglich wechselnder Machtverhältnisse hielt die Dörfer und Gemeinden in Atem, so auch Engen. Hier gibt es eine beispielhafte Szene in Zahners Stück: Elf Frauen fordern den amtierenden Bürgermeister auf, die Stadt nicht zu verteidigen. Doch der bekommt den entgegengesetzten Befehl gerade aus der Radolfzeller SS-Kaserne!

„Vera“ ist eine zutiefst menschliche Geschichte, keine unheilschwangere Geschichtsaufarbeitung. Gerhard Zahner ist es gleichsam gelungen, die ideologisierenden Hüllen zu durchstoßen, um an den Kern zu kommen. Wer war diese Frau wirklich, die auf jeden Fall ihren Beitrag zur Erhaltung von Engen geleistet hat? Vielleicht wurde sie auch zum Spielball späterer Interessengruppen? Ich habe Vera Backmund 1971 als Leiterin des ersten Singener Kindergartens für Behinderte im Oberlin-Haus kennengelernt. Eine sensible Frau, die sich einem völligen Neuland stellte. Eine große, kräftige Frau, die von ihrer Aufgabe überzeugt war. Ihre Vorgeschichte habe ich erst später erfahren.

„Vera“ hatte ihren Filmvorführschein für ihr „Lamm“ in Engen gemacht, die Eröffnung des Kinos wird ihr untersagt. Zahner macht sie auch im übertragenen Sinn zur „Cutterin“. Das Bild hat mich fasziniert im Hinblick auf die Bewältigung des Krieges und die Zeit der SS-Gewalt: Man schneidet wie bei einem Film einfach ein Stück Geschichte heraus. Wie Millionen Kriegsopfer und Flüchtlinge: Einfach weg! Der ultimative Dialog mit der feinen Dame wirkt manchmal wie ein letztes Abendmahl, bei dem die beiden Frauen auch das Brot teilen. Vera nennt den erhofften Lohn für ihre Rettungstat: „Das Geschenk, von einem Menschen verstanden zu werden!“ Und was denkt die „Cutterin“ über ihre kommende Handlung: „Man schneidet Szenen heraus, heraus aus dem Ganzen, die dann nie gezeigt werden, nie gesehen, wie nie gelebt. Wie eine weiße Fahne die Zerstörung herausschneidet!“ Und ihre nächtliche Besucherin antwortet: „ Engen hat sicher später ein paar andere Szenen - aus dem Leben der Schuldigen – zum Herausschneiden für eine Cutterin!“ Und einige Szenen später wird die Dame endgültig zur Visionärin: „Die den Ort rettet, würde für immer aus ihm ausgeschossen!“ Vera zieht später ihr Fazit: „Eine Fremde, immer, auch im eigenen Leben!“

In der Schlussszene streichelt Vera noch über die weiße Fahne, die Gesprächspartnerin und Vorab-Zeugin schenkt ihr ihren schönen Mantel. Der Dank für die kommende Tat? Engen hat ihr nicht Dank gesagt. Die gelungene Sanierung der Altstadt wäre ein letzter Termin dafür gewesen, denn ohne die weiße Fahne hätte es in Engen nichts mehr zu erhalten gegeben. Aber Ehrungen oder gar Ehrenbürgerschaften kann man nicht für sich wollen oder gar erzwingen lassen wollen. Und der „Fall“ Vera Backmund? Sie ist 1990 in Armut verstorben. Es geht nicht um eine Neuauflage alter Debatten. Es geht um einen Menschen in eigener Entscheidungsnot. Nicht darum, eine Figur der Zeitgeschichte zu instrumentalisieren. Was bleibt ist eine Wertung von Herta Däubler-Gmelin, die einen letzten Gruß auf die schwarz-rot-goldene Schleife der Grabblumen hat drucken lassen: „Zu Ehren einer mutigen Frau.“

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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