Zum Glück gibt es den Handwerker vor Ort
Ein Dichtungsring stellt die Welt in Frage
Vieles ist in unserem Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden. Deshalb hinterfragen wir die gewohnten Abläufe nicht mehr, solange eben alles glatt läuft. Aber, wehe . . . Dann ist die Welt schon morgens um Sieben längst nicht mehr in Ordnung! In den Nachrichtensendungen laufen die Weltkatastrophen immer so glatt an uns vorbei – die Unwetter in NRW, das Hochwasser in Osteuropa. Aber was passiert, wenn das Wasser im Spülbecken in der heimischen Küche nicht mehr abläuft? Da liegen unsere Nerven schnell blank, wenn der vielbeworbene Rohrreiniger nicht für Abhilfe sorgt, der Gummistopfer wirkungslos bleibt. Selbst ist die Frau, doch der aufgeschraubte Siphon bringt auch keine Lösung. Das Rohr ist zwar nicht mehr verstopft, aber es rinnt! Der herbeigerufene Enkel der Nachbarin kommt zum gleichen Ergebnis: Ein neuer Dichtungsring muss her! Und den gibt es im Fachhandel, einen Spezialisten dafür gleich um die Ecke. In einer Plastiktüte wird das defekte Teil mitgebracht, doch Siphonanlagen samt Dichtungsringen hat man hier nur für Badeinrichtungen, nicht für Küchenabläufe. Gute Ratschläge gibt es, wo ein solches Ersatzstück wohl zu bekommen sei. Ein Anruf bei einem Sanitärfachhändler brachte die nächste Ernüchterung, solche Dichtungsringe habe man natürlich, aber nur für Handwerksbetriebe!
Jetzt wird es spannend, denn jetzt gibt es nur noch den Anruf beim damaligen Küchenlieferanten. Der hatte damals einen Handwerksbetrieb mit dem Einbau beauftragt, Dichtungsringe dafür gebe es im Baumarkt. Im Genannten erfolgte der nächste Anruf – sicherheitshalber. Ja, das hätten sie natürlich in großer Auswahl. Doch dann kommt die nächste Enttäuschung für die Hausfrau: Mit dem Siphonbogen könnte der Service-Berater im Baumarkt nichts anfangen. Um die richtige Dichtung zu finden, brauche er das Zuführungsrohr! Dann erst könne er die Größe für den Dichtungsring feststellen! Familienrat am Abend daheim: Das haben wir in der Physik einmal anders gelernt. Der Dichtungsring mag außerhalb irgendwelcher Norm liegen, doch mit dem mitgebrachten Siphonbogen ist die Größe eigentlich definiert.
Klar ist, dass am nächsten Morgen der Handwerksbetrieb im Nachbarort angerufen wird, der vor 13 Jahren auch schon als Flaschner beim Hausanbau gute Dienste geleistet hat. Zuvor aber gibt es eine lange Nacht zum Nachdenken. Was will uns diese Geschichte eigentlich sagen? Ist „selbst ist der Mann“ überhaupt noch möglich oder sogar im Trend? Ja, zum Glück gibt es bei uns im Handwerk die Initiative „60+“, die Hilfe im Alter signalisiert, wenn man selbst vieles nicht mehr selber machen kann. Beim Auto sind Diagnose-Prüfstände mit Computer-Steuerung selbstverständlich geworden – doch beim Siphon unter der Küchenspüle? Ist das alles dem technischen Fortschritt geschuldet? Doch dann kommen Erinnerungen hoch. Aus der Bauzeit des Hauses hatte der Onkel noch jede Menge Bündel mit Dichtungsringen in seiner Werkstatt im Keller. Die hat man immer wieder einmal gebraucht, wobei immer wieder eine richtige zu finden war. Die Nachkriegszeit kannte auf jeden Fall die Hilfe zur Selbsthilfe! Da wurde das Gewinde für Leitungsrohre noch selbst gedreht.
Die Zeit zum Nachdenken bringt manches Ärgernis wieder hoch. Im Zuge mit unserem Anbau und der kompletten Altbausanierung war unser Sohn vielfältiger Bauhelfer, so auch bei der Umgestaltung der Werkstatt, als wir nicht mehr gebrauchte alte Dichtungsringe entsorgten. Dafür verlangte die Berufsgenossenschaft auch noch ihren Obulus – für die Handreichungen eines zwölfjährigen Schülers! Das verlange das Gesetz so. Von wegen Gesetz: Das Finanzamt stufte beim Baukindergeld den Anbau mit kompletter Erneuerung der Haustechnik komplett als Altbausanierung ein. Ja, das war so eine Nacht der Widersprüche. Ein Dichtungsring öffnet das Tor zu vielen Erinnerungen.
Beim Anruf im Handwerksbetrieb war am nächsten Morgen dann Eile geboten, denn man weiß ja nie, wann dort der Tagesablauf festgelegt wird. Kurz nach 7 Uhr war der Anschluss besetzt und die Büromitarbeiterin versprach Abhilfe. Die kam dann rechtzeitig zur Zeit der Mittagessenvorbereitung. Der Fachmann hatte gleich tröstende Worte: Solche Abflusskonstruktionen sehe er häufig, da könne er schnell Abhilfe schaffen. Einen solchen Dichtungsring habe er zwar nicht, das sei auch nicht das Problem. Ein neues Stück Rohr zum Abfluss müsse her. Dafür hatte er auch seinen Werkstattwagen dabei. Er ging zur Haustür heraus und kam mit einem neuen Stück wieder. Das sah nun alles ganz anders aus, denn jetzt war alles im Lot, regierte wieder der rechte Winkel. Kunststoff war durch Kunststoff ersetzt, nichts tropfte mehr – Erleichterung auf allen Seiten. In nicht einmal einer halben Stunde war das ganze Problem gelöst.
Und jetzt habe ich wieder Zeit zum Nachdenken. 12 Jahre hat der Abfluss in der Küche gehalten. Keine schlechte Leistung für den damaligen Monteur, der die Küche aufgebaut hat – und dabei auch den Abfluss gelegt hat. An künftige Reparaturen verschwendete er dabei keinen Gedanken. „60+“ war ihm als Problem unbekannt. Und auch ich konnte mir nicht vorstellen, mit dem Rollator an keinen Siphon mehr heranzukommen. Eines ist allerdings auch eine Erkenntnis: Selbst ohne Handicap geht vieles nicht mehr ohne den Fachmann vor Ort. Der hinterlässt auch kein Bündel mit Dichtungsringen in der Werkstatt im Keller für künftige Notfälle. So ändern sich die Zeiten. Und die Berufsgenossenschaft? Ihre Rolle verstehe ich immer noch nicht. Will sie durch einen Dokumentationswahn Schwarzarbeit verhindern? Um Nachhaltigkeit von Handwerksarbeit geht es ihr wohl nicht. Und das Finanzamt? Das sparte dem Staat Geld, zumal das Baukindergeld damals von der Politik schon zum Auslaufmodell erklärt war . . . Bloß nicht zu viel nachdenken!
Von Hans Paul Lichtwald
- Redaktion
Autor:Redaktion aus Singen |
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