Singens Konflikt-Thema der 70er Jahre
Als Landfahrer sesshaft wurden . . .

Die Situation der Jenischen und Landfahrer war mit das heißeste Thema der 70er Jahre in Singen. Integration und Sozialisierung? Was sollte rund um die Etzwielerstraße in Singen geschehen? Plötzlich war alles anders unter dem Hohentwiel. Der scheidende Bürgermeister Otto Muser propagierte den Abriß der letzten Baracken an der Georg-Fischer-Straße. Die Georg-Fischer AG hat hier noch Notunterkünfte aus der Kriegszeit unterhalten. Der Abriß der nebenan stehenden letzten Baracke wurde gleichsam zum Volksfest, an dem ich zweifach teilnahm: als Mitglied des Jugendwohlfahrtsschusses der Stadt und als junger Zeitungsmitarbeiter. Für mich war es eine Türöffnung in eine fremde, völlig andere Welt: Auf dem Boden stapften wir im Wasser, das in der Küche von der Decke lief, während eine Großmutter die letzte Suppe noch auf dem Holzherd kochte. Draußen rückten Bagger und Raupen an. So ganz freiwillig schien die Räumung nicht zu erfolgen. Der Kampf um die Nichtseßhaften war in Singen entbrannt!

Der Zugang zum Thema war unterschiedlich: sozialpolitisch, städteplanerisch, ordnungspolizeilich – oder einfach menschlich. Da ging es um die Bergers, die Kräuters, die Lehmanns und viele andere. Vieles wurde klarer, als 25 Jahre später ein Kulturverein der Singener Jenischen gegründet wurde. Ein Zweig der Bergers war damals aus der Schweiz nach Singen eingereist. In den 70er Jahren war Alteisen rarer geworden. Neben Singen galt Blumberg als günstig für Schrottsammler. Die jeweiligen Beweggründe waren schwer nachvollziehbar. So lag kurz vor Weihnachten plötzlich ein neugeborenes Kind beim Südkurier auf der Ladentheke. Ein anderes Szenario: Der Traktor hatte just an der Singener Stadtgrenze den Geist aufgegeben! Immer ging es um den Lebensunterhalt. Und dann war noch Vater Kräuter gestorben!

Mitten im Thema war Christof Baudrexel, der gleichsam zum Getti aller Jenischen werden sollte. Sein Einstiegsthema war die Unterbringung und der Lebensunterhalt für die Landfahrerfamilien. Nach einem Achsbruch war oft Endstation im Singener Süden. Neue Unterbringungskonzepte waren gefragt. Christof Baudrexel war strikter Gegner von konzentrierter Unterbringung. Er mischte sich ein, wenn es darum ging, für die Großfamilien ein Dach über dem Kopf zu finden. Das gab immer wieder Konflikte mit städtischen Stellen und mit dem Sozialdienst katholischer Frauen, die in der Etzwielerstraße tägliche praktische Sozialarbeit leisteten. Es wirkte bisweilen kurios, wenn Frau Direktor plötzlich ehrenamtlich kleinen Landfahrerkindern die Windeln wechselte. Sie sorgten für Reparaturen, wenn sozialer Spannungen zu Defekten an der Bausubstanz führten. Und plötzlich sprachen die Frauen auch im Jugendwohlfahrtsausschuß mit!

Der Bau des Kindergartens für den Treffpunkt Süd war eine schwere Geburt, weil hier alle Interessen aufeinander stießen. Gebildet wurde ein Unterausschuß des Jugendwohlfahrtsausschuß, in dem Einigkeit darüber bestand, dass ein Kindergarten ohne Prunkt richtig und nötig war. Drei Modelle in unterschiedlicher Kostenhöhe standen am Ende im JWA zur Entscheidung. Würde am Ende das Projekt noch scheitern? Wegen mir auf jeden Fall nicht, bekannte ich am Morgen noch nach einem Anruf aus dem Jugendamt: Einen mittelteure Lösung, aber bitte keinen Prunkbau! Darauf lief es dann auch hinaus – bis zur Einweihung des Baus!

Das Anliegen war, dass die Bewohner in Treffpunks dieses als ihr Gebäude begreifen und annehmen sollten. Dieser Zwiespalt bewegte auch mich bei der Einweihung, an der ich in mehrfacher Funktion teilnahm: als Reporter des Schwarzwälder Boten und Mitglied beider Ausschüsse, JWA und Unterausschuß. Ich blieb literarisch in meinem Bericht: „Draußen vor der Tür!“ Kinder drückten ihre Nasen an die Türfenster, während drinnen Musiker den Marsch bliesen! Der Geist aus dem Unterausschuß war wie weggeweht. So ging es bei der weiteren Problembewältigung weiter.

Die ersten Landfahrerfamilien hatten das Quartier verlassen. Im Zelt lebte eine Familie bei Mühlhausen. Mit ihnen sollte sich ein Bericht im „Report“ aus Hamburg beschäftigen, der Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle vorab dazu bewog, sein Mitbürger vor einseitiger Sicht auf die Wohnproblematik vorzuwarnen. Sein Hauptvorwurf: Baudrexel habe die Jenischen gezwungen, solange im Zelt zu bleiben, bis die Fernsehbilder im Kasten seien! Reporterin Luc Jochimsen, die später für die Linken in den Bundestag einziehen sollte, hatte Probleme mit dem Sendetermin, so dass sich dieser verzögerte. Möhrles Vorwarnung kam auch deshalb zu früh. Gegen diese ging dann Christof Baudrexel juristisch vor, was Möhrle nicht privatrechtlich verfolgt sehen wollte sondern öffentlich-rechtlich. Dagegen kommentierte ich im „Schwarzwälder Boten“: Dem OB müsse egal sein, wo rechtlich entschieden werde – Hauptsache bald! Das gab natürlich Ärger für mich. Zudem stellte ich mich auf die Position, der Gemeinderat habe Möhrle ja auch nicht gesagt, dass er seine Bürger vorwarnen müsse – also alles privatrechtlich! Möhrles Position setzte sich durch; eine weitere Niederlage für –chb-.

Sein Eintreten für Landfahrer war schwieriger geworden. Vielfach blieb nur persönlicher Einsatz. Im Fall Lothar Berger zeigte sich, dass angebotene Hilfe nicht immer dankbar angenommen wurde. Ziel war die Sozialisation eines jungen Paares. Die ganzen Rahmenbedingungen wurden als Scenario aufgebaut. Das reichte von der Wohnungsfindung bis zur Eheschließung. Christof Baudrexel war natürlich Trauzeuge. Als kurz vor der Eheschließung noch ein Zweiter fehlte, ließ ich mich von ihm zum Mitmachen motivieren. Damit übernimmt man auch Verantwortung. Umso mehr schreckte dann seine Geschichte auf: Lothar wurde auf dem Heimweg festgenommen. Er stand unter Verdacht, in eine Bauhütte am Sparkassenneubau eingebrochen zu sein. Dann sei er weggerannt! Lothars Einlassung: Starker Druck auf der Blase. Da habe er schnell an einen Bauzaun pinkeln müssen. Die paar Meter zur Wohnung hätte er nicht mehr geschafft! Chb stellte in der Zeitung einen Zusammenhang zwischen der Flucht und den neuen Uniformen für den Bezirksdienst her: davor habe der einfach Angst gehabt!

Das blieb nicht der einzige Fall, bei dem „Patenkind Lothar“ Ärger gemacht hatte. Christof hatte mehr als nur einmal „Lehrgeld“ gezahlt. Aber zahlreiche Landfahrer setzte weiter auf ihn – er bürgte umgekehrt für sie. Jahre später stürmte ein jenischer Möbelhändler in die Räume des Singener Wochenblatts: Zu tiefst aufgeschreckt, bleich und schlotternd – als sei er dem Teufel begegnet! In Gailingen hatte er in einem Keller einen Mann in einem Käfig eingesperrt gesehen! Ja, das war ein Recherche-Fall für Christof! Der frühere Ortsarzt hatte ihn zur Welt gebracht, dann war er offenbar bürokratisch „verloren“ gegangen! Keine Schule, keine Bundeswehr! Das Metallgestänge am Käfigboden ersetzte die Toilette im Haus der Großeltern! Wir haben ihn „Homunculus“ getauft. Er kam ins Heim . . .

Nachdem sich 2003 der Verein der Jenischen in Singen unter Führung von Alexander Flügler gegründet hat, ist vieles ruhiger um die Landfahrer geworden. Sie haben eine eigene Geschichte – und leben sie. Sie sind stolz auf ihre Vergangenheit, ihr Überleben als fahrendes Volk. Ihr Traum in Singen war immer, eine alte Baracke als kleines Museum zu erhalten. Beispiel für gelungene Integration oder auch Assimilierung? Vorbild ist das alte Vereinsheim des ESV Singen . . .

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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