Welche Öffentlichkeit brauchen wir wirklich?
40 Tage „ohne“: Einfach anders nachdenken

Seit es den Politischen Aschermittwoch des Singener Wochenblatts gibt, hat sich meine eigene Zeitrechnung geändert. Der „Tag danach“ war schon immer etwas Besonderes, denn nach dem närrischen Taumel kehrte gerade im Zeitungsalltag eine neue Art der Normalität ein. Die Haßliebe des Journalisten zur Fastnacht hat mein Lehrmeister Herbert A. Baier im Buch „Die Welt der Fastnachtsnarren“ voll getroffen: Privat lieben wir die „fünfte Jahreszeit“, doch beruflich sind wir geradezu „kontraproduktiv“ gefordert. Wehe, wenn ein Narrenspiegel nicht ausreichend gewürdigt wurde?! Wehe, wenn der Name der Hauptdarstellerin falsch geschrieben war?! Und plötzlich kennen Narren keinen Spaß mehr! Ich habe später einen anderen Ansatzpunkt der Kritik gesehen, dass nämlich für viele die Fastnacht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist! Landrat Dr. Robert Haus war der Hüter aller Narrenhäuser in der Region. Wenn die Gottmadinger Zunft Bier brauen wollte, sorgte er für die richtige Rechtsgrundlage! Brauchte jemand Play-Back-Musik für einen Bühnenauftritt, dann besorgte er die über seine SWR-Beziehungen. Er hielt aber keine Büttenreden! Das tut heute eher Bundestagsabgeordneter Andreas Jung. Er kann es: Blitzblanke Verse, alles auswendig mit strahlendem Gesicht. Und dann kommt wieder der Gedanke, ob nicht er von anderen eine Litanei verpasst bekommen müsste?

„40 Tage ohne“ ist seit einigen Jahren der Apell der Evangelischen Kirche“. Wollen wir nicht auch einmal etwas anders „fasten“? Man kann schließlich auf Unterschiedliches verzichten. „Fasten“ lässt sich auch nicht unbedingt auf Kulinarisches reduzieren. Liebgewonnene Rituale könnte man ablegen und in eine geistige Askese gehen. Der Singener Pfarrer Schulz brachte vor Jahren seine erste Fastenankündigung in die Redaktion – und dachte an eine Zeit ohne Fernsehen! Sein Ziel war mir klar, denn es ging einfach erst einmal um das Nachdenken in der Ruhe!

Und nun machen wir den Politischen Aschermittwoch! Sein Apell zum Nachdenken ist mir bis heute geblieben. Warum nicht einmal über den eigenen Tellerrand hinaus denken?! Beim diesjährigen Aschermittwoch gab es dieses Jahr vor allem Augenblicke, in denen Sinn oder Unsinn unserer ganzen Welt knallhart auf dem Prüfstand kam. Kein Arzt und keine Pflegerin werden unsere heutige „ältere“ Generation bis ins hohe Alter betreuen – außer sie hätten den Beruf schon ergriffen! Der demografische Faktor muss neu definiert werden. Und 100 000 Pflegekräfte fehlen heute schon offiziell. Mehr noch: Wir wissen das als Gesellschaft – und wir tun nichts! Und dann kam der Hinweis: Dann muss man die Leute hat „gescheit“ bezahlen. Was das an der Schweizer Grenze bedeutet, unterstreich die Abwanderung.

Unsere Gesundheit hatte am Aschermittwoch in der Singener Scheffelhalle Öffentlichkeit gefunden, zumal viele lokale Entscheider im Saal saßen. Für mich stellt sich zugleich die Frage, welche Öffentlichkeit wir in Zukunft wirklich brauchen? Den Zusatz eines „sozialen Netzes“ akzeptiere ich für das Internet schon lange nicht. Das sind nicht das Sozialamt und erst Recht nicht die Heilsarmee, die hier Hilfesuchenden Schutz bieten. Statt dessen entkleiden sich hier Leute bis in ihr seelisches Innerste. Die Folgen davon habe ich mehrfach im Gerichtssaal erlebt.

Wir sind verstärkt „gläserne Mitbürger“, deren Erkenntnisse wiederum werbewirksam umgesetzt werden. Wie werden Krankenhäuser bewertet? Aussagen zu unserer Region haben wir beim Politischen Aschermittwoch relativiert. Und wer keine teuren „Studien“ in Auftrag gibt, befragt einfach die Mitglieder oder Kunden. Und schon haben wir wieder neue Schlagzeilen! Just an Aschermittwoch flatterte eine neue Offerte auf den Wohnzimmertisch: Da gibt es eine Zusatzversicherung für zweimal Zahnprophylaxe im Jahr, die nochmals die Hälfte mehr einbringt als sie kostet! Das Angebot bekommen junge Zusatzversicherte, die diese bisher noch nicht gebraucht haben! Einfach großartig!

Und einen Tag später macht ein Vater die Polizei „rund“, weil sie ihn nicht genügend „ästimiert“ hat, nachdem seine Tochter Opfer einer Disco-Schlägerei war! Dabei war er weder Zeuge noch der Täter unbekannt. Alles war ausermittelt, doch im Vergleich zu den Kriminalfällen im Fernsehen fehlte noch irgendwas! Fehlte da vielleicht das „Feeling“: „Ich bin wichtig!“ Das ist der Augenblick von Aschermittwoch mit der Frage, was wirklich in und für unser Leben wichtig ist? 40 Tage kann man zum Nachdenken nutzen, ob man in der Hektik des Alltags nicht doch einiges vergessen hat. Und: Welche Öffentlichkeit brauchen wir wirklich? Was ist wirklich weltbewegend?

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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