Editorial
Arbeitsmarkt: Es geht um Bedürfnisse, die zusammenpassen

Die Menschen sind unterschiedlich. Erst, wenn wir bereit sind, die Unterschiede anzuerkennen und uns gegenseitig den Raum lassen,
die daraus entstehenden Bedürfnisse zu leben, entstehen gelingende Beziehungen. Im Privatleben wie im Berufs- und Arbeitsleben. | Foto: swb - Bild: Karikatur Amrit Raj
  • Die Menschen sind unterschiedlich. Erst, wenn wir bereit sind, die Unterschiede anzuerkennen und uns gegenseitig den Raum lassen,
    die daraus entstehenden Bedürfnisse zu leben, entstehen gelingende Beziehungen. Im Privatleben wie im Berufs- und Arbeitsleben.
  • Foto: swb - Bild: Karikatur Amrit Raj
  • hochgeladen von Juleda Kadrija

Employer Branding, Funnels, um potentielle Mitarbeitende direkt zu erreichen, Worklife-Balance, Incentives, Direkteinstellungsverfahren via Social Media, sündhaft teure Foto-Shootings, Heldensagen, damit sich das Arbeiten wie großes Abenteuer anfühlen soll, Arbeitgeberbewertungsportale, Jobmessen, -börsen, Empfehlungsprämien, Homeofficeversprechen…
Es kann einem ganz schwindlig werden, wenn man beobachtet, was an Kommunikation entwickelt und vor allem verkauft wird, damit Unternehmen vielleicht an richtiges Personal kommen oder Personal an die richtigen Arbeitsplätze. Und deshalb spart sich der Autor die nächsten Tipps zum Thema „was ist die hippste Werbemethode?“, sondern beschäftigt sich mit Grundprinzipien. Ein vorsichtiger Versuch, zumindest ein paar Denkimpulse zu geben…

Wenn es um bewusste Kommunikation geht, dann geht es immer erst einmal um die Frage: Was will ich mit meiner Kommunikation erreichen? Wenn man dann weiß, was man will, ist schon einmal gut. Aber Kommunikation wirkt erst dann, wenn sie auf der anderen Seite ankommt, idealerweise so, wie man es beabsichtigt.

Vier ganz menschliche Probleme in der Kommunikation

Das erste Problem: Die eigene Absicht trifft auf einen anderen Menschen, der auch einen Willen hat (ja, wir Menschen sind intentionale Wesen, wir haben einen Willen und wir haben auch Unlust, dort, wo es nicht passt; aus beidem speist sich auch unsere schöpferische Kraft, auch bekannt und genutzt als Arbeitskraft). Aus den unterschiedlichsten Gründen (allen voran immer weniger junge Menschen und immer mehr alte, aber auch höhere Lohnnebenkosten und Bürokratiekosten, versäumte arbeitsmarktfreundliche Einwanderungspolitik, anderes Lebensverständnis etc.) hat sich das Machtverhältnis zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden wesentlich verändert. Was Arbeitnehmer*innen wollen und vor allem nicht wollen, spielt heute eine größere Rolle als wahrscheinlich jemals zuvor in der industrialisierten Welt.

Das zweite Problem: Die Welt um uns herum, also die um das Unternehmen, das gute Fach- und Führungskräfte sucht und die Welt um den potentiellen Mitarbeitenden herum, sie ist komplexer geworden, unsicherer und braucht eine ganz andere Aufmerksamkeit als früher. Weite Teile der bisherigen Sicherheiten in unserem Staat funktionieren nicht mehr verlässlich, das hat konkrete Auswirkungen. Pflege, Kindergarten, der gesamte Gesundheitsbereich, überall fehlen Mitarbeitende, ist plötzlich wieder niemand da, steigen die Kosten für die Bürger*innen exorbitant. Die Kosten für Lebensmittel und Energie sind in den letzten Jahren exorbitant gestiegen. Wir sind für fast jede Beziehung zu Unternehmen oder zu Behörden unsere eigenen Sachbearbeiter*innen geworden, was wertvolle Ruhezeit frisst. Und Unternehmen sehen sich einer überbordenden Bürokratie gegenüber und Erwartungshaltungen, die nur noch schwer zu bewältigen sind.

Das dritte Problem, das natürlich eigentlich keines ist: Wir Menschen sind keine Computer. Und wir entscheiden weniger kontrollierbar, als das Marketingstrategen gerne hätten. Im Kern ist es vielleicht am ehesten so: Wir entscheiden aus einem Gefühl heraus, gespeist aus Lebenserfahrungen, Neugier, rationalen Daten und Fakten, Notwendigkeiten, familiärem Druck, Sehnsucht, schon einmal gehörten Erfahrungen anderer, Tipps von Eltern, guten Freund*innen, Kindern, Sternchen aus Bewertungsportalen, dem Gefühl am jetzigen Platz vielleicht falsch zu sein, dem Geschmack des morgendlichen Cafés etc. Und danach sagt der Kopf ganz klar, warum wir jetzt entschieden haben.

Das vierte Problem, das jetzt eins werden kann: Wenn Arbeitgeber all das lesen, könnten sie denken: Aber wo bin ich mit dem, was ich jetzt brauche. Ich muss es doch noch hinkriegen, will doch etwas im Markt, will doch für meine Kunden da sein. Will Erfolg haben. Und trau mich schon fast nicht mehr, meins auch noch reinzubringen…

1. Die eigenen Bedürfnisse des Unternehmens klären und zu Ihnen stehen, sie nach Wichtigkeit sortieren, damit es später leichter fällt zu unterscheiden, auf was man verzichten könnte und auf was nicht.

2. Die Bedürfnisse der potentiellen Mitarbeitenden aus dessen Perspektive wirklich verstehen wollen und ebenfalls nach Wichtigkeit sortieren. Dabei ist wichtig, dass die jeweiligen Lebensumstände potentieller Mitarbeitenden andere Bedürfnisse zur Folge haben. Wichtig scheint dem Autor, nicht Vorurteilen gegenüber z.B.: jungen oder alten zu folgen. Es ist zum Beispiel mehr jungen Menschen wichtig, langfristige Perspektiven zu haben, als uns das die vor allem digital getriebenen Narrative glaubhaft machen wollen. (Socialmediakanäle und Bewertungsportale profitieren von schnellen Jobwechseln) Mit Menschen aus der gedachten Zielgruppe sprechen, zuhören und lernen. Mit den eigenen Mitarbeitenden sprechen, was Sie schätzen und Ihnen wichtig ist, warum sie mit an Bord sind.

3. Schauen, wie die Bedürfnisse an den jeweiligen Arbeitsplätzen befriedigt werden könnten (also machbar sind).

4. Überlegen, was der Arbeitsplatz an Fähigkeiten braucht (nicht nur technische, sondern vor allem „menschliche“ Kompetenzen, oft auch als weiche Kompetenzen bezeichnet). Verstehen, dass jede Stärke auch eine Schwäche mit an Bord hat. Beispiel: Der gute stets aufmerksame Routinier ist nicht zwingend ein guter Innovator und umgekehrt.

5. Überlegen und sammeln, was das Unternehmen bietet, was es unterscheidet von anderen. Gute Frage dazu sind neben den Standards: Welche Atmosphäre ist bei uns? Wer fühlt sich wohl bei uns und wer nicht? In welchen Situationen ist bei uns große Freude über Geleistetes? Auf welche Weise begegnen wir den Unsicherheiten der Welt? Was bieten wir an Umgebung für die Arbeit? Was wird bei uns im Unternehmen tatsächlich spürbar honoriert, mit Geld und mit Aufmerksamkeit, die sich gut anfühlt? Was und damit wer fehlt uns, um zu tun, was wir tun wollen?

Erwartungserwartungen sind die Erwartungen, die wir von anderen erwarten

6. Daraus klare Aussagen schaffen und sie kommunizieren. Klare Gespräche führen über Bedürfnisse, Erwartungen, Erwartungserwartungen und Grenzen. Nichts annehmen, sondern klären. Und zwar nicht einseitig, sondern gegenseitig. Und über die Realität sprechen in beiden Welten, der des Unternehmens und der des potentiell Mitarbeitenden. Eine Gesprächskultur im Unternehmen aufbauen, in der sich gegenseitig bedürfnisorientiert zugehört, wirklich verstanden und klar entschieden wird. Sie ist vielleicht ein gutes Gegenmittel gegen Quiet Quitting wie gegen laute Trennungen.
7. Leiten könnte und sollte aus Sicht des Autors beide Seiten der Wille, dass eine Arbeitsbeziehung entsteht, die besser ist als der Durchschnitt der bisherigen Arbeitsbeziehungen. Weil: Wer will schon Durchschnitt?

Worklifebalance? Was für ein unglücklicher Begriff.

An diesem Punkt eine kritische Bemerkung, die dem Autor schon lange auf dem Herzen liegt: Der Begriff Work-Life-Balance hat sich leider bei uns eingebürgert. Er tut so, als ob Leben und Arbeiten zwei verschiedene Welten wären. Das ist aber falsch. Wir sind ja nicht tot, wenn wir arbeiten. Und wir arbeiten ja auch etwas, wenn wir zuhause sind. Und wenn wir unlebendig arbeiten, dann kommt da sicherlich nichts Begeisterndes heraus. Es ist für unser Lebensgefühl auch nicht gut, wenn wir einen Großteil des Lebens eher nicht so lebendig sind. Es geht vielmehr um Grenzen zwischen Lebensbereichen, um Life-Domain-Boundaries. Und damit darum, dass die Belastungen im Leben unterschiedliche sein sollten. Wer im Büro dauernd am Computer sitzt, sollte es daheim weniger tun. Wer dauernd Konflikte im Arbeitsleben löst, sollte daheim weniger Konflikte lösen müssen und umgekehrt, etc. Das ist übrigens auch Stand der Forschung.
Und damit ist es die Basis von Gesundheitsvorsorge durch Erholung ganz generell. Die Grenzen sollten, den Erwartungshaltungen oder vielmehr Verlockungen der digitalen Welt zum Trotze, klar gezogen und im Zweifelsfall eben auch klar verhandelt werden. Weil sonst besonders die vitalen und loyalen Mitarbeiter*innen ausbrennen. Lebendigkeit sollte zur Lebensfreude beitragen und nicht zum Alptraum werden, im Privat- wie im Arbeitsleben. Das ist eine derzeit sicherlich anspruchsvolle Organisationsaufgabe, die von Arbeitgeber*innen wie von Arbeitnehmer*innen bewältigt werden muss. Im steten fruchtbaren Dialog.

Wachsen aneinander

Wenn Fach- und Führungskräfte inklusive Unternehmer*innen aneinander wachsen (können), Konfliktfähigkeit und Problemlösungskompetenz geübt und gelebt wird, dann ist das weitaus lebens- und ergebnisfreundlicher, als wenn wir uns dauernd gegenseitig die Türen zuwerfen, immer auf der Suche nach der besseren Option, getrieben von digitalen Welten, die genau daraus ihr Kerngeschäft gemacht haben, statt die Probleme im Dialog zu lösen, die wir doch spüren. Was nicht heißt, dass Wechsel nicht gut sein können. Wo kein Wachstum mehr ist, wo es nicht passt, da macht es natürlich Sinn, sich einen neuen Ort zu suchen, aber doch bitte erst nachdem wir miteinander gesprochen haben über eben: Erwartungen, Erwartungserwartungen und Bedürfnisse, geredet, zugehört und uns gegenseitig verstanden haben. Und geschaut haben, ob aus dieser Kommunikation nicht doch etwas Fruchtbares zu machen ist.

Kontakt: hennig@wochenblatt.net

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Eine/r folgt diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.