Lesung über den Leidensweg von Ernst Lossa
Was echte Nazis wirklich getan haben
Singen. Eine ganz besondere und auch politisch wichtige Lesung wurde am Freitagabend vor dem Gedenken an die Pogromnacht durch den Förderverein der Jenischen und anderen Reisenden mit Robert Domes und seinem Buch "Nebel im August" gegeben.
Regina Henke vom Vorstand des "Fördervereins der Jenischen und anderer Reisenden e.V." konnte am Freitagabend viele Besucher im Vortragsraum der Thüga in der Singener Industriestrasse begrüßen. Nur weniges entfernt liegt die erst kürzlich eröffnete Fördervereins-Begegnungsstätte in der Bohlinger Strasse. Anwesend war etwa Singens Kultur-Fachbereichsleiterin Catharina Scheufele, SPD-Stadträtin Christa Bartuschek und Marcel Da Rin von der Singener Kriminalprävention, welcher diese Premiere im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben" durch das Bundesministerium für Familien Senioren, Frauen und Jugend unterstützen konnte. Henkes Dank galt auch Thüga-Geschäftsführer Dr. Markus Spitz für die gastfreundliche Organisation und Anett Gollent von der AWO für die Flyer-Gestaltung.
Die Anwesenden folgten gebannt einer gut einstündigen Lesung mit Autor Robert Domes zu seinem Buch „Nebel im August“, der Geschichte des jenischen Jungen Ernst Lossa. Der wurde mit knapp 15 Jahren als „schwer erziehbar“ und angeblich „asozialer Psychopath“ im August 1944 in Folge eines mörderischen, nationalsozialistischen Tötungsprogramms in der „Heilanstalt Kaufbeuren-Irsee“ nachts gegen 22 Uhr mit zwei Morphiumspritzen hingerichtet.
Ausgezeichnet
Domes erhielt für sein Buch, welches in weitere Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt wurde, zuletzt den Kulturpreis 2023 der Stadt Kaufbeuren, den Bayrischen Filmpreis sowie den Friedenspreis des Deutschen Films. Gebürtig 1961 im bayrischen Ichenhausen, wo - wie in Singen - eine große Gemeinschaft der Jenischen lebt, recherchierte der ehemalige Kaufbeurener Redaktionsleiter der "Allgäuer Zeitung" über fünf Jahre hinweg akribisch den Leidensweg des Jungen, der, geistig und körperlich völlig gesund, heimtückisch ermordet wurde.
Zum Verhängnis wurde Ernst Lossa seine familiale Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Jenischen, welche von den Nazis gemeinsam mit Sinti, Roma und anderen fahrenden Menschen als „minderwertige Zigeuner“ und „lebensunwert“ diskriminiert, gnadenlos verfolgt und systematisch umgebracht wurden. Schätzungsweise 500.000 Betroffene wurden in den NS-Konzentrationslagern getötet „mit dem Ziel, diese Menschen auszurotten“, so Domes in seinem Buch.
Die Heilanstalt Irsee war die vierte und letzte Station des Jungen, der bereits am 4. Juli 1933 - in einer ersten Verfolgungswelle der Nazis gegen "Asoziale" - im Alter von knapp vier Jahren mit seinen drei kleinen Geschwistern den Eltern in Augsburg für immer entrissen wurde. Seine Mutter stirbt im Alter von 23 Jahren noch im gleichen Jahr, sein kleiner Bruder, knapp zwei Jahre alt, im Säuglingsheim. Sein Vater stirbt 1942 im KZ Flossenbürg, nur die jüngeren Schwestern Amalie und Anna überleben die mörderische NS-Zeit.
Ein Bild bleibt
„Ein Leben nur bergab, mit 15 Jahren beendet“ fasst Domes den Kreuzweg von Ernst Lossa zusammen, der von Heim zu Heim eingewiesen wird, keine Familie mehr hat, keine Zugehörigkeit, Liebe, Fürsorge und Zuwendung erfährt und damit - kein Wunder - seine Schwierigkeiten hat. In späteren Verhören der US-Army zeichneten Menschen, die ihn als Mitinsassen oder im Pflegedienst im Alltag näher kannten, hingegen ein liebenswertes, angenehmes Charakterbild von Ernst Lossa, den man ob seiner Hilfsbereitschaft zum Arbeiten „mitnehmen konnte“.
Domes verfolgt in seinem Buch das Leben des Jungen „wie mit einer Kamera auf dessen Schulter“, denn „alles, was wir von ihm wissen, haben wir von den Tätern“. Erhalten blieb wesentlich nur ein Foto des kahlgeschorenen Zwölfjährigen, der Blick des Jungen mit „einer Mischung aus Sehnsucht und Kampfeslust, Verlorenheit und Trotz, Pfiffigkeit und Melancholie, Neugier und Angst“, so Domes.
Anstaltdirektor war "haftunfähig"
Insgesamt starben zwischen 1939 und 1945 in Kaufbeuren und Irsee 2.333 Patienten. Das letzte dokumentierte Kind wurde am 29. Mai 1945 in Irsee getötet, gar 33 Tage nach der Besetzung der Stadt durch US-Truppen. Den brutalen Tätern im Heim, welche 209 Kinder mit einer Überdosis an Medikamenten in Erfüllung des gnadenlosen NS-Euthanasie-Programms systematisch ermordet hatten, geschah wenig: So wurde der Anstaltsdirektor nach einem Schuldspruch 1949 für angeblich haftunfähig erklärt, musste nicht ins Gefängnis, wurde 1954 vom Bayrischen Justizminister begnadigt - und erhielt seine Rentenansprüche zurück.
Für die nun 88-jährige Roswitha Besnecker, Frau der ersten Stunde bei den Stolperstein-Verlegungen in Singen, bleibt dies „ein schweres Thema; es muss etwas geschehen, dass weiter aufgearbeitet wird.“ Auch Alexander Flügler senior vom Fördervereins-Vorstand erinnerte an viele Versprechungen seit der Singener Nachkriegszeit, „als auf den Jenischen herumgehackt wurde, wir von Baracke zu Baracke ziehen mussten, Plätze weggemacht wurden, das Reisen verboten wurde, mit Hunden und Polizei uns nachgestellt wurde“, obgleich die jenischen Familien „seit 1727 hier in Singen leben“.
Flügler arbeitet derzeit auf den „Tag der Opfer der Jenischen“ am 6. und 7. Januar 2026 hin, zusammen mit der Opfergruppe Baden-Württemberg und dem Europäischen Rat, dem Frankreich, Schweiz, Österreich, Holland und Deutschland angehören. Auch ein Dokumentarfilm sei geplant, so Flügler senior, der auch auf einen Besuch des Oberbürgermeisters in der Begegnungsstätte hofft.
Autor:Bernhard Grunewald aus Singen |
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