Spannende Lesung aus jensicher Jugend
Verjagt und ins Abseits gestellt
Singen. Der unverstellte Blick von Carina Kreuter auf ihre Kindheit und Jugendzeit in einer der bekanntesten Jenischen Familien in Singen faszinierte am Mittwochnachmittag eine bemerkenswerte Runde von Frauen in der Begegnungsstätte des „Vereins der Jenischen und anderer Reisenden“ in der Bohlinger Strasse. Unter den Gästen waren auch Catharina Scheufele vom Kulturamt, Stadträtin Christa Bartuschek, Ursula Garz als ehemalige Leiterin der Wessenberg-Förderschule und Jutta Baudrexel als langjährige Weggefährtin: Alle lauschten Carina Kreuter im Rahmen der ersten gemeinsam mit Anett Gollent von „AWO-Frühe Hilfen“ organisierten Veranstaltung „Starke Stimmen - Jenische Frauen erzählen ihre Geschichte“.
Carina Kreuter wurde vor gut 56 Jahren in Singen als 5. Kind einer Jenischen Großfamilie mit schlussendlich 10 Kindern geboren - laut amtlicher Geburtsurkunde „Auf der Landstrasse“ bei Rielasingen-Arlen. Als sie etwa 7 Jahre alt war, zog ihre Familie aus einem damaligen Aufenthalt in Waldshut erneut nach Singen in die Geburtsstadt der Mutter zurück, nachdem die Stadt wohl eine Wohnung in Aussicht gestellt hatte - Onkel und Tante waren bereits ansässig.
Die Kreuters waren zwar 1975 die letzte unversorgte Familie, doch Ordnungsamt und Polizei zogen den Wohnwagen der Familie mitsamt der hochschwangeren Mutter nach kurzer Zeit von der Etzwiler Strasse fort, was den Lokal-Journalisten Christof Baudrexel vor nunmehr exakt 49 Jahren nachhaltig empörte und „zum großen Kämpfer für die Sache der Jenischen gegen alle Widerstände und Bürokratie“ werden ließ, so Regina Henke vom Vereins-Vorstand.
Bis anhin galt das Wort des Vaters, wonach es für die Kinder galt, sich vor lauter Angst vor Fremden auf dem Landfahrer- „Mucke-Platz“ zu verstecken, gerade „wenn die Deutschen kommen, die nehmen uns mit“, erinnert Frau Kreuter. So zog der Traktor mit 6km/h den Wohnwagen gen Mühlhausen- Ehingen, wo die Familie für ein Jahr „bi em gute Bure“ stehen konnte.
Aber es gab auch andere, die „mit Holzschittle schmisse oder prüglet hont“, wenn „die dreckige Zigüner“ um Essen bettelten. Jenische und Sinti werden bis heute zu Unrecht „alle in einen Sack gesteckt, dabei haben wir doch alle eine eigene Kultur, Sprache, Geschichte und Musik“.
Schlimm war der Hunger: „Es sind nicht alle satt geworden, es gab leere Mehlsuppe für die Kleinen, mit Hunger ins Bett war normal“. Aber der Zusammenhalt in der Jenischen Gemeinschaft war da: „Erst die eigenen Kindern, dann die anderen“. Windeln wurden im Bach gewaschen, es gab kein Wasser, die Waschschüssel ersetzte das Bad. Im Winter ging es zusammen aufs Feld, Erdäpfel (Kartoffeln) sammeln.
Und 1978, in der anhin kältesten Winternacht Deutschlands, schlief die Familie im Wald bei Ehingen im Zelt, bis Baudrexel wenigstens eine Übernachtung im Mühlhauser Pfarrhaus erwirken konnte. Danach ging es wieder zurück in den Wald - ein Foto zeigt 5 Kinder im Stroh im Zelt. 1979 starb der Vater und Baudrexel sanierte als Schreiner, der er auch war, ein komplettes Haus in Weiterdingen „von Grund auf“, so Ehefrau Jutta Baudrexel, um der nun alleinerziehenden Mutter mit ihren Kindern, Oma und Opa eine Bleibe zu ermöglichen.
Doch der Aberglaube siegte gleich nach dem Einzug direkt neben dem lokalen Totenhaus: Es knarrt und macht solche Geräusche und Zeichen, dass „der Mulo kommt“, der Teufel. Also ging es zurück nach Singen, wo das Jugendamt der Mutter androhte, entweder die Kleinen oder die Großen ins Kinderheim zu geben.
„Mit 9 Jahren war meine Einschulung, ohne Test, sofort Hilfsschule“, so Frau Kreuter. „Ich war ‚draußen sein‘ gewohnt, fühlte mich wie eingesperrt, war sicher keine gute Schülerin“. Sie schaffte vier Klassen, weil die Eltern immer den Schulbesuch guthießen und Baudrexel den Kindern im Wohnwagen beim Lesen und Schreiben half. Ohne festen Wohnsitz gab es jedoch kein Kindergeld, lediglich den Kampf darum. Zwischenzeitlich wurde das Singener Sozialzentrum „Treffpunkt Süd“ eingerichtet, mit Kindergarten und einfacher Struktur, sogar mit Badewanne und Dusche - „aber ohne deutsche Kinder“, so Kreuter, „es war sicher gut, aber auch ein Ghetto für Sinti und Jenische. Wir hatten keine deutschen Freunde und in der Sonderschule haben uns schon unsere Familiennamen den Stempel aufgedrückt. Aber alle Kinder kannten das Jenische - wir haben uns nie verleugnen lassen.“
Sichtlich stolz bilanziert sie für ihre Kindheit: „Trotzdem - es war eine schwere Kindheit, aber schön!“ Ausbildung gab es nicht, denn es wurde gesagt „die können nix“ - eine Diskriminierung, die bis heute anhält. Immer wieder ging es zurück in die Etzwiler Strasse, „woanders haben wir ja nix kriegt“. Die Gesundheit macht ihr mittlerweise zu schaffen - sie ging Putzen im Kindergarten, war im Bundesfreiwilligendienst, erledigte 1,50-Euro-Jobs, bekommt Bürgergeld und ist mittlerweile seit 10 Jahren ehrenamtlich im Tafelladen aktiv.
Sie hat 3 Kinder großgezogen und freut sich am Enkel, der aufs Gymnasium geht: „Es hat sich doch einiges geändert“. Auch in der Partnerwahl: Drei der fünf anwesenden Jenischen und Sinti-Frauen haben Nicht-Jenische geheiratet und Mara Hölzl vom Vereinsvorstand brachte es auf den Punkt: „Wir sind komplette Europäer, weil es uns überall in Europa gibt - wir sind die Deutschen Jenischen!“
Autor:Bernhard Grunewald aus Singen |
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