Gedenken zum Volkstrauertag in Singen
"Fragen stellen - das sind wir unseren Toten schuldig“
Singen. Zum Volkstrauertag hatte die Stadt Singen am Sonntagvormittag, 17. November, gemeinsam mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur feierlichen Gedenkveranstaltung in die Einsegnungshalle des Singener Waldfriedhofs eingeladen. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger folgten dem Aufruf und gedachten im Verlauf der würdevollen Veranstaltung insbesondere der Toten beider Weltkriege und der zahllosen Opfer, welche durch politische Willkürherrschaft ihr Leben verloren haben.
Eingangs intonierte das Schulorchester des Hegau-Gymnasiums unter Leitung von Gabriele Haunz das einfühlsame „trumpet minuet“ von Peter Prelleur, gefolgt von Begrüßungsworten durch Oberbürgermeister Bernd Häusler, welche besonders auch der teilnehmenden Ehrenformation der Reservistenkameradschaft (RK) Singen galten.
Häusler erinnerte an Kriegserfahrungen früherer Generationen, wie die Menschen „nach dem Ende schockiert“ waren angesichts Millionen gefallener Soldaten und der Erinnerung an das Leiden, den Verlust und den Schmerz. Und doch gab es bereits zu Kriegsbeginn 1914 jenes ‚Soldaten-Abschiedslied’ von Heinrich Lersch mit dem Kehrreim „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“.
Für Häusler wurden damit „Soldaten als Kronzeugen der eigenen Überzeugungen“ benutzt. Auch heutzutage gibt es - mit Blick auf die beiden Weltkriege und mit Blick auf den Ukrainekrieg - zwei Seiten, solche Krisen und Kriege zu betrachten: Einerseits begann schon vor dem Ersten Weltkrieg eine „Spirale von Drohung und Gegendrohung“ durch bewaffnete Kriegsparteien, andererseits konnte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs das „Zurückweichen vor der Gewalt Hitlers“ den Frieden nicht bewahren. Häusler selbst hält „klare Signale“ einer „wehrhaften Demokratie“ für nötig, rät aber zugleich zum „Aushalten“ anderer Meinungen an: „Wir müssen uns als freie, offene Gesellschaft diese Frage stellen“, so Häusler, „das sind wir unseren Toten schuldig.“
In die Stille der Versammlung hielten Leon Kraus und Paulin Wirth, Schüler des Friedrich-Wöhler-Gymnasiums, nachfolgend die Hauptrede zum Volkstrauertag. „Trauern bedeutet, nicht einfach nur traurig zu sein, sondern die damaligen Opfer insoweit zu ehren, dass sie nicht umsonst waren“, so Leon Kraus. Dies braucht wahrhafte Geschichten und so schildert Kraus in eindringlichen Worten die Leiden des Maurice Cling, eines jüdischen Jungen aus Paris, der am 4. Mai 1944, seinem 15. Geburtstag, mit Eltern und Bruder nach Auschwitz deportiert und für immer von ihnen getrennt wird. Kurz vor Kriegsende wird er in das KZ Dachau verfrachtet, wo er kräftemäßig nur überleben kann, wenn er sich auf einen Haufen lebloser Körper legt.
Kraus rief auch die Geschichte des Singener Max Porzig in Erinnerung, engagierter Sozialist und Redakteur der SPD-Zeitung „Volkswille“, dessen 1932 aufgeführtes Theaterstück „Der verlorene Sohn“ die Nazis blamierte, was zu späterer Deportation in das KZ Natzweiler-Struthof führte. Später erfolgte eine Inhaftierung im Rahmen der "Aktion Gitter" der Nazis nach dem Attentat auf Hitler. 1948 starb Porzig an den Spätfolgen und wurde, wie späterhin weitere Singener Nazi-Opfer, mit einem Stolperstein geehrt.
Auch Paulin Wirth unterstrich die tiefe Bedeutung von wahren Geschichten, auch, „um Erwachsene aus einem ignoranten Schlafwandel zu wecken“ und „aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen“. Nachdenklich erinnerte Wirth an das berühmte Zitat des Amerikaners Hiram Johnson bereits 1914: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ - ein Satz, in diesen Tagen angesichts der rasanten Verbreitung von Falschinformationen und offenkundigen Lügen, „noch relevanter als je zuvor“, so Wirth. Er bezeichnete den Rechtsruck in Deutschland „besorgniserregend“, „vor allem, weil jeder genug Geschichten kennt“. Zum Frieden gehöre „das Wissen über den Terror des Krieges“, aber auch die Kenntnis der Geschichten der Opfer, damit diese Gräueltaten „nicht mehr geschehen, nicht mehr geschrieben werden müssen“.
Nach „May it be“ aus dem Filmepos „Der Herr der Ringe“ folgen nun Gabriele Haunz und Michael Schrader von der Reservistenkameradschaft Singen, die einfühlsam und gemeinsam im Wechsel der Toten, Ermordeten, Verfolgten und Erniedrigten gedachten. Ludwig Uhlands vertonter Text „Ich hatt‘ einen Kameraden“ folgte zum Schluss.
Im gemeinsamen Zug gingen die Anwesenden danach zur Kranzniederlegung am Gedenkkreuz für die Opfer des Zweiten Weltkrieges durch OB Bernd Häusler und Stabsfeldwebel i.R. Michael Schrader, bevor am ehemaligen westlichen Rand des Singener Waldfriedhofs Auszüge einer Rede von Singens Ehrenbürger Willi Waibel von 2022 „am Ort der Entrechteten“ von OB Häusler nach einer weiteren Kranzniederlegung vorgetragen wurden - hier verscharrten die Nazis in einer Abfallgrube Französische, Russische und auch Ukrainische Soldaten, Gestapo- und SS-Opfer und Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen.
Letzte gemeinsame Station war der Gedenkstein an zahlreiche Singener Opfer des Nationalsozialismus, die von OB Häusler als auch von Katrin Brüggemann und Daniel Keller vom Verband der Verfolgten des Naziregimes (VVN) mit Kränzen geehrt wurden, wobei Keller an unsägliches Leid auch in Singen erinnerte - so an die Bombardierungen der Stadt im letzten Kriegsherbst und - winter, nachdem Hitler und seine Nazi-Befehlshaber um keinen Preis kapitulieren wollten, obgleich der Krieg, "der vom ‚Deutschen Boden‘ aus entfesselt worden war, längst ins Land zurückgekehrt war“, so Keller.
Autor:Bernhard Grunewald aus Singen |
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