Düstere Premiere von «Woyzeck» in der Färbe
Eine Reise in die Abgründe der Gesellschaft
Singen. „Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und keine Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt.“ – setzt die Großmutter an, um den Kindern einen Einblick in die Welt zu verschaffen. Eine einsam erscheinende Welt voller Schein und Trauer, wenn man den Worten Georg Büchners Glauben schenken mag. Bedrückend wie das Märchen der Großmutter in Georg Büchners «Woyzeck», eröffnete die Färbe Singen vergangenen Freitag gleichwohl ihre eigene Interpretation des Klassikers in der Basilika und bereitete die Zuschauer, die sich zur Premiere eingefunden hatten, auf die intensiven Einblicke in die Abgründe der Gesellschaft und die düstere Welt des Protagonisten Woyzeck vor.
«Wenn man kalt ist, so friert man nicht mehr»
Ein Soldat - mit Kind und Frau, mit Freund und Vorgesetzten, mit Doktor und Kompanie. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein Witz, dass gerade ein Mensch, der aktiv an der Gesellschaft teilnimmt und ihnen ohne Widerwort das Soll erbringt, von Einsamkeit geplagt wird. Doch mit dem Einblick in die Welt des Protagonisten «Woyzeck» (Fionn Stacey), verliert dieser Zweifel zugleich jeglichen Halt. Betrogen von der Frau, gedemütigt von seinem Hauptmann und der Kompanie, missbraucht von seinem Doktor und zu beschäftigt für sein Kind, nimmt seine Flucht in den Wahn immer weiter an Bestand an – und wie die Diskrepanz zwischen Woyzecks Welt und der Realität immer weiterwächst, so lässt auch sein Ausdruck nach. Monoton, gar tot, passt er sich den Gegebenheiten an und bleibt still und stumm in seiner Funktion. Was wir äusserlich wahrnehmen, erschien dem Regisseur Andreas von Studnitz in seiner Version des Woyzeck wohl nicht genug – denn über der Bühne, auf eine Leinwand abgebildet, schaffte er Platz für die visuelle Darstellung der Gefühle und Zustände, die den Protagonisten plagen. Alexandra Born, die eine beeindruckende schauspielerische Vielseitigkeit zeigte, wurde so zu dem Gesicht der einsamen und fragilen Seele auf der Leinwand – die unabdingbar in seine eigene, verwirrte Welt entfliegt, um dem Fegefeuer auf Erden zu entgehen.
„Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“
Doch wer mag ihm diese Flucht verübeln? Der Mensch scheint ein einziger Abgrund zu sein. Tief in der Natur des Menschen verankert ist es, nach seinen eigenen Bedürfnissen zu Handeln – so ist manch einer gar bereit, sich mit allerlei Mitteln einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Ob nun der Doktor (Elmar F. Kühling), der die finanzielle Notlage des Woyzecks als Mittel für seinen Ruhm nutzt, die Frau Marie (Bianca Waechter), versucht sich mit Lügen, Affären und Schmuck einen Trost in der Freiheit erhofft – weil sie die Verwirklichung ihres Selbst nie erreichen konnte – oder der Hauptmann (Ralf Beckord), dessen Horizont sich nicht weiter als über die Gedanken der Anderen erstrecken und dessen Beschränkung er mit seiner Arroganz und Demütigung eines Unterlegenen zu bedecken weiß: das Urteil, ob die Handlungen des Menschen nun in Gut oder Böse einzuteilen sind, bleibt jedermanns eigenem Kompass überlassen – auch bei dem Mord des Woyzecks an Marie. Dennoch erweckt Büchners Stück den Eindruck, als hätte er sich die Frage nach dem Grund dieser Handlungen selbst beantwortet und lässt die Natur des Menschen und dessen Fragilität für sich sprechen.
Der Mensch ist ein Tier
Doch es wäre ein Trauerspiel, wäre der Mensch nur von dieser Komplexität geplagt. So erinnert die Darstellung des Tambourmajors (Ben Ossen) eher an einen triebgesteuerten Affen, der einzig seiner Sexualität und dem Alkohol Folge leistet. Ein unterhaltsamer Niedergang der ansonsten so tugendhaften Oberschicht, begleitet Lachen des Publikums, aber zugleich endet auch diese Szene in einer nachdenklichen Stille – vielleicht, weil auch diese Interpretation einen gewissen Wahrheitsgehalt der gesamten Menschheit inne trägt.
Dieses Bild der Menschheit wird im weiteren Verlauf durch die künstlerische Freiheit des Teams verstärkt als der Marktschreier nicht das Pferd, sondern den Tambourmajor, auf der Bühne des Marktes als ein dummes Vieh vorführt. Auch beim Arrangement der Originalfragmente des Stückes zeigte sich die Färbe geschickt und nutzen die Gelegenheit, die Bruchstücke nach ihrem eigenen Belieben anzuordnen – mit Erfolg, denn die Neuanordnung der Szenen eröffneten neue Wege, das bereits vorhandene differenzierter zu erleben.
Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?
In den Schatten der Gesellschaft und den Abgründen der menschlichen Natur lauert dennoch weiterhin die gebrechliche Psyche, die Schuld und Unschuld in einen schier undurchdringlichen Nebel hüllt. Büchners Werk und die beeindruckende Inszenierung der Färbe fordern und mahnen uns gleichermaßen, in unseren eigenen Spiegel und damit auch in den menschlichen Abgrund zu blicken, von dem Wohl jeder betroffen zu sein scheint. Die Frage nach Gut und Böse, die Zerrissenheit des Menschseins und die Schatten der Gesellschaft sind auch nach dem Verlassen der Basilika ungeklärt – wenngleich der Anreiz nachhaltig gesetzt wurde, die eigene Natur und deren Auswirkungen auf das Zusammenleben zu hinterfragen.
Von: Tara Koselka
Autor:Redaktion aus Singen |
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