Podiumsdiskussion zu 75 Jahre Grundgesetz
Die Angst vor Veränderungen ins Positive drehen

vhs Programmdirektor Stephan Kühnle lauscht gespannt den Ausführungen von Landtagspräsidentin Muhterem Aras.  | Foto: Philipp Findling
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  • vhs Programmdirektor Stephan Kühnle lauscht gespannt den Ausführungen von Landtagspräsidentin Muhterem Aras.
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Singen. Auch wenn es erst am 23. Mai seinen 75. Geburtstag feiert, so rückt das Grundgesetz aufgrund aktueller Geschehnisse schon drei Monate vor den Feierlichkeiten wieder in den Fokus. Hierüber und über dessen Wert wurde am 29. Februar bei einer Podiumsdiskussion mit Landtagspräsidentin Muhterem Aras im Bürgersaal des Singener Rathauses gesprochen.

Schon der Singener Historiker Axel Huber wies anlässlich dieses besonderen Jubiläums auf viele "Blindstellen der Geschichte" hin, so habe eine Umfrage 1947 ergeben, dass "die Idee von Nationalsozialismus in Deutschland richtig gewesen, nur falsch umgesetzt" worden sei. Er verwies auf die menschenverachtenden Motivwägen während der Singener Fastnacht zur Zeit des NS-Regimes hin sowie auf mehrere Menschen, welche in einer sogenannten "Euthanasie" ermordet wurden.
Hiernach führte der Programmdirektor der VHS im Kreis Konstanz, Stephan Kühnle, die prominente Rednerin ein. Muhterem Aras, welche als 12-Jährige nach Filderstadt kam und seit 2016 das Amt der Landtagspräsidentin bekleidet, habe ihm zufolge "die Willkommenskultur bereits gelebt, als diese noch kein Begriff war". Er lobte sie dafür, dass sie trotz vieler Streitereien im Landtag "immer versuche, sachlich zu bleiben".

Singener Brandrede

Es folgte die Rede der Landtagspräsidentin selbst, welche Stephan Kühnle danach als "Brandrede, welche in die Singener Geschichte eingehen werde", bezeichnen sollte. Dabei verwies Aras zu Beginn auf die vielen Begrifflichkeiten, welche das Grundgesetz schon erlangt hatte und betitelte es selbst als "Hausordnung für unser Zusammenleben". Sie betonte das historische Symbol, mit dem Grundgesetz ein "Zuhause" aufzubauen, so tagte der damalige Parlamentarische Rat in dem Zoologischen Museum in Bonn, eines der wenigen Gebäude, welches vom Krieg nicht zerstört wurde. Selbst zu Zeiten Carlo Schmids galt das Grundgesetz "lediglich als Fundament" und die Bonner Republik als "Notbau", welcher 75 Jahre danach "ein gutes Haus für alle Deutschen" geworden sei. 
Aras verdeutlichte auch die Bedeutung der GastarbeiterInnen, welche das Land veränderten sowie der Studierendenproteste, "die unser Selbstbild nachschärften". Diese und viele andere Ereignisse deutscher Geschichte gehörten zum heutigen Selbstverständnis als Republik. Auch wenn man es sich heimisch gemacht habe in den Artikeln des Grundgesetzes, so habe es sich die Gesellschaft ihr zufolge dort irgendwann zu bequem gemacht und angefangen, die Demokratie für selbstverständlich zu halten. "Noch nie in den 75 Jahren der Bundesrepublik war unsere Demokratie dermaßen bedroht wie jetzt", stellte die Landtagspräsidentin klar. "Es ist ein Irrtum, dass nicht wieder passieren kann, was nicht wieder passieren darf." Auch wenn die aktuellen Ereignisse um die Potsdamer Neonazi-Treffen viele schockiert hätten, so haben deren "Vertreibungspläne einen Nerv getroffen und viele aufgerüttelt". Gerade weil "Remigration" als Unwort des Jahres ernannt wurde, sollte man laut Aras "die Sprache und die Ankündigungen der Demokratiefeinde ernst nehmen". Viele weitere Unwörter der letzten Jahre stehen ihr zufolge "für jenes Gedankengut und den Hass, für die immer gleichen geplanten Tabubrüche, die unsere Diskurse und unsere Debatten nach und nach verrohen". 

"Rassistisch aufgeladener" Volksbegriff

Für die Landtagspräsidentin gehe es im Grundgesetz um die allgemeinen Rechte und Pflichten, welche die "Demokratiefeinde" mit ihrer Vereinnahmung des Begriffs des Deutschen Volks missbrauchen. "Wer einen einheitlichen Volkswillen zu vertreten behauptet, ist schlicht und einfach Populist", stellt Aras klar, der Volksbegriff werde von ihnen "rassistisch aufgeladen". Ein "ethnischer Volksbegriff", wie er ihr zufolge auch von gewissen AfD-Politikern geprägt werde, ist schlichtweg verfassungswidrig. Diesen Menschen gehe es "nicht um Argumentation, sondern um Manipulation: um Wut und Angst". Auch in den Plänen beim Potsdamer Geheimtreffen, wo laut Aras auch über eine Kampagne gegen den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk diskutiert wurde, sehe sie eine direkte Verletzung des Artikels 5 im Grundgesetz. 
Allgemein bezeichnete Aras diese und weitere Vorgehen der "Demokratiefeinde" als "Dämonisierung der Demokratie". Aufgrund der sich immer mehr verbreitenden verbalen und tätlichen Gewalt derer würden sich ihrer Schilderung nach viele Menschen insbesondere auf kommunaler Ebene nicht in die Politik trauen. In diesen und weiteren Fällen, in welchen auch die sogenannten "Reichsbürger" ihr zufolge nicht ganz unbeteiligt seien, sei die "Härte des Rechtsstaates, aber auch die klare Haltung und Positionierung aller Bürgerinnen und Bürger, aller Demokratinnen und Demokraten" gefragt. "Wir erleben hier im wahrsten Sinne eine Demonstration der Demokratie", stellte Aras fest. "Haltet in dieser Frage zusammen, wehrt euch gegen die Demokratiefeinde!", appellierte sie an die demokratischen Parteien. Erneut Carlo Schmid zitierend bekräftigte Aras, dass man "den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen muss, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen." Nur durch diesen Mut, so Aras, bewährt und bewahrt sich das Grundgesetz. 
Abschließend sei es für Muhterem Aras unter anderem wichtig, "sich mit Menschen auszutauschen, die anderer Meinung sind, [...] um diese wieder in die demokratische Mitte zurückzuholen." Neben "einer Sprache, die differenziert, nicht diskriminiert" sowie dem Engagement in Parteien und Vereinen verwies sie zudem auch auf die anstehenden Kommunal- und Europawahlen, um dort die Stimme für demokratische Parteien abzugeben: "Zeigen wir dort den Demokratiefeinden die rote Karte. Besser kann man 75 Jahre Grundgesetz nicht feiern."

Anschließende Podiumsdiskussion

Nach dieser viel umjubelten Rede wurde von Stephan Kühnle die Podiumsdiskussion eröffnet, in welcher der vhs-Programmdirektor zunächst von Aras wissen wollte, wie sie im Landtag damit umgehe, trotz ihrer Parteizugehörigkeit Neutralität zu bewahren. Aras habe damit "gar kein Problem", so werde sie in den Sitzungen "immer Partei ergreifen, um unsere Werte zu schützen und Antisemitismus in die Schranken zu weisen". Es gebe eine "rote Linie", nach der ihrer Aussage nach "respektvoll, sowie im Sinne des Grundgesetzes" gesprochen werden soll. Peter Teubner, welcher derzeit mit einer Ein-Mann-Demonstration in der Singener Innenstadt ein Zeichen gegen Rechts setzt, betonte gegenüber Aras, dass es "wichtig ist, für die Werte auf die Straße zu gehen" und fragte sie dahingehend, ob es denn zum 23. Mai eine richtige Feier geben werde. Es seien Veranstaltungen geplant, wo beispielsweise das Grundgesetz getanzt werde sowie eine Gesprächsreihe, wo in unterschiedlichen Regionen in Baden-Württemberg über einen bestimmten Artikel des Gesetzes diskutiert werde, so Aras. "Kommen Sie doch bitte mit diesen Veranstaltungen auch zu uns", merkte Stephan Kühnle an. 
Auf die Frage einer Zuhörerin, wie eine Brandmauer gegen Hetze im Internet errichtet werden könne, antwortete Aras, dass man hiergegen unter anderem mit einer auf kommunaler Ebene eingerichteten Hotline entgegenwirken könne.
Giuseppe Femia vom Verein inSi wollte wissen, inwiefern man die Jugend in der aktuellen Lage unterstützen möchte. Hierbei verwies Aras auf die "Gefahr, welche noch nicht ernst genommen wird" und hoffe, dass man gerade durch die Möglichkeit, bereits mit 16 Jahren bei der Kommunalwahl nicht nur wählen, sondern sich auch aufstellen lassen zu dürfen, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung erreichen möchte. "Es ist für euch genügend Auswahl an Parteien dabei, die im Sinne des Grundgesetzes handeln." Auf eine Frage eines Zuhörers, warum es aktuell so schwer sei, mit den Unterstützern dieser "Demokratiefeinde" in den Dialog zu treten, entgegnete Muhterem Aras, dass man "aufhören muss, in schwarz-weiß zu denken und Menschen in eine Schublade zu stecken". Dabei sei sie überzeugt davon, dass viele Wählerinnen und Wähler wieder zurück in die demokratische Mitte geholt werden können. Die "Angst vor Veränderungen" bezeichnete sie dabei als eines der großen Probleme, diese Menschen zu überzeugen. "Wir müssen bestrebt sein", so Aras, "diese mit Ängsten verbundenen Veränderungen ins Positive zu drehen." Einen Verbot solcher Parteien halte sie dabei für falsch, so würde die Gesinnung immer erhalten bleiben. "Hierbei ist es wichtig, die Hürden so hoch wie möglich anzusetzen." 
Auch die Stockacher Bürgermeisterin Susen Katter fragte sich, was in der Vergangenheit falsch gelaufen sei, dass es überhaupt wieder zu dieser Lage kommen konnte. "Wir haben uns vor allem viel zu lange nicht als Einwanderungsland bezeichnet, obwohl wir längst ein solches waren", betonte Aras. Hierdurch sei eine verzögerte Debatte entstanden, welche schon viel früher hätte geführt werden können. Ein Problem sehe sie auch in der Privatisierung vieler Dinge, welche nicht immer dem Artikel 14 des Grundgesetzes (Eigentum verpflichtet) entspreche. Allgemein sei es für sie wichtig, Migration besser zu steuern und ein "modernisiertes Einwanderungsgesetz" auf den Weg zu bringen.

Autor:

Philipp Findling aus Singen

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