"Wahrheit" aus Geistlichen-Sicht
Wahrhaftig miteinander umgehen

Foto: Kevin Hosmann

„Was ist Wahrheit?“, fragt Pontius Pilatus im Neuen Testament (Johannes-Evangelium, Kap. 18, Vers 38). Diese Frage geht weit über philosophische Überlegungen und Debatten hinaus. Sie zeigt sich letztlich lebenspraktisch. Pilatus stellt seine Frage, nachdem Jesus von sich behauptet, er sei der Zeuge für die Wahrheit. An anderer Stelle sagt er sogar von sich, er sei die Wahrheit in Person. Ein hoher Anspruch! Wie ist es aus christlicher Perspektive um diesen Wahrheitsanspruch bestellt? Was Wahrheit ist, zeigt sich für mich am Leben Jesu: sein Eintreten für das Reich Gottes und eine gerechtere Welt, seine Solidarität mit den Randständigen und Ausgegrenzten, seine aufrichtige Liebe für die Menschen, die sich mitunter auch über vermeintlich in Stein gemeißelte Normen hinwegsetzt. Jesus lebt für die Wahrheit – und hat sogar sein Leben für sie eingesetzt.

Bis heute gehen Menschen bis ans Äußerste für etwas, das sie als wahr erkannt haben. Mögen es die Überzeugungen von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit sein, seien es explizite Glaubensüberzeugungen oder ein anderer innerer Kompass. So ist Wahrheit in gewisser Weise individuell und dort, wo das Engagement für die Wahrheit etwas kostet, sogar existenziell. Aber auch in einer pluralistischen Gesellschaft ist sie nicht beliebig. Wahrheit hat etwas mit Verlässlichkeit zu tun. Nicht in jedem Fall sind das messbare Fakten, immer zeigt sich Wahrheit aber dort, wo Leben wachsen kann. Wo Menschen frei werden zum Leben und zur Entfaltung. Sich im eigenen Handeln die Frage zu stellen: Ist es wahr? Dient, was ich tue, der Wahrheit?, kann ein gutes Kriterium für gelingendes Miteinander sein. Das würde uns als auch Gesellschaft guttun! Wo wahrhaftig miteinander umgegangen wird, kann es auch einmal unbequem sein: aufrichtig sagen, was ich meine, dann aber auch meinen und tun, was ich sage und konsequent leben, was dem Nächsten und dem Guten dient, wenn es auch anstrengend ist und immer wieder umkämpft. Schließlich halte ich es für heilsam, wenn Wahrheit und der wahrhaftige Umgang mit mir und anderen einmal ein Eingeständnis zur Folge hat: Auch Scheitern gehört dazu. Sich Fehler und Fehlverhalten einzugestehen und sie klar zu benennen, ist ein Zeichen von Stärke. Wer das einmal erfahren hat, merkt: Wahrheit im Sinne von Aufrichtigkeit kann tatsächlich frei machen. Wahrheit ist Wagnis! Eines, das sich lohnt. Wie wäre es, wenn wir das einüben würden in Politik, Kirche, unserem persönlichen Leben? Das Aussprechen der Wahrheit kann hier zur lebenserhaltenden Maßnahme für Vertrauen, Demokratie und Mitmenschlichkeit werden.

Wie gefährlich es ist, wenn Wahrheit sich von Fakten und Humanität löst, ist derzeit vielerorts erlebbar. Hier braucht es Zeuginnen und Zeugen der Wahrheit, wie Jesus es war – und mit ihm und nach ihm viele andere. Dann geht es weniger um die „eine“ Wahrheit als vielmehr darum, wie wir gemeinsam wahrhaftig miteinander umgehen und leben. Im Mosaik der Perspektiven kommt man dann, fast beiläufig, einer größeren Wahrheit Schritt für Schritt näher.

von Kevin Hosmann,
evangelischer Theologe und Vikar der Luthergemeinde Singen

Autor:

Redaktion aus Singen

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